Keiner ist besser als der andere. Лев Толстой. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Лев Толстой
Издательство: Bookwire
Серия: marixklassiker
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783843806121
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als durch Verleitung zum Trunke. Es entwickelt sich beim Lob eine krankhafte Empfindlichkeit, die zu haltloser Schwäche führt und die beim Tadel in Erbitterung und Mutlosigkeit ausartet. Hauptsächlich vermehrt sich die Kränklichkeit und Verwundbarkeit.

       (Tagebücher)

      Der Franzose hat Selbstvertrauen, weil er sich persönlich als Geist und Körper für unwiderstehlich bezaubernd hält, sowohl für Männer als für Damen. Der Engländer hat Stolz und Selbstvertrauen darum, weil er ein Bürger des besteingerichteten Reichs der Welt ist und darum als Engländer immer weiß, was er zu tun hat und überzeugt ist, daß alles, was er als Engländer tut, unzweifelhaft gut sei. Der Italiener hat Selbstvertrauen, weil er von lebhaftem Temperament ist und leicht sich und andere vergißt. Der Russe hat Selbstvertrauen eben deshalb, weil er nichts weiß und nichts wissen will, weil er nicht glaubt, daß man irgend etwas sicher wissen könne. Der Deutsche besitzt ein stärkeres und widerlicheres Selbstvertrauen als alle anderen, weil er sich einbildet, er wisse die Wahrheit, hält die Wissenschaft, die er sich selbst erdacht hat, aber für absolute Wahrheit.

       (Krieg und Frieden)

      Wenn ich an mein Knabenalter zurückdenke (…), verstehe ich vollkommen die Möglichkeit des schrecklichsten Verbrechens ohne einen Zweck, ohne den Wunsch zu schaden, nur so aus Neugier, aus dem unbewußten Verlangen, etwas zu tun. Es gibt Augenblicke, in welchen die Zukunft dem Menschen in so düsterem Lichte erscheint, daß er sich fürchtet, seinen geistigen Blick auf sie zu richten, daß er die Tätigkeit des Verstandes in sich anhält und sich selbst zu überzeugen sucht, daß das Zukünftige nicht sein wird und das Vergangene nicht war. Zu solchen Augenblicken, wenn der Gedanke die willenlose Stimmung nicht im voraus beurteilt, und wenn als einzige Triebfeder des Lebens die Sinneninstinkte übrig bleiben, begreife ich, daß ein unerfahrenes Kind, das besonders zu diesem Gemütszustände veranlagt ist, ohne Zögern und ohne Furcht mit einem Lächeln der Neugier an das eigene Haus Feuer legt und einen Brand anfacht, an das Haus, in dem seine Brüder, sein Vater, seine Mutter, die es alle zärtlich liebt, schlafen. Unter dem Einfluß einer ebensolchen, zeitweiligen Geistesabwesenheit – man möchte sagen Zerstreutheit – schwingt der siebzehnjährige Bauernbursche beim Anblick der Schneide des eben geschliffenen Beiles neben der Bank, auf welcher mit dem Gesicht nach unten sein alter Vater schläft, plötzlich das Beil und sieht mit stumpfer Neugier zu, wie das Blut aus dem zerschnittenen Hals unter die Bank rinnt; unter dem Einfluß dieser selben Gedankenlosigkeit und instinktiven Neugier empfindet der Mensch eine Art von Genuß darin, sich an den äußersten Rand eines Abhanges zu stellen und zu denken: wie, wenn ich mich da hinunterstürze? Oder eine geladene Pistole an seine Stirn zu halten und zu denken: wie, wenn ich den Hahn losdrücke? Oder eine angesehene Persönlichkeit, für welche die ganze Gesellschaft kriechende Verehrung hegt, anzusehen und dabei zu denken: wie, wenn ich jetzt hingehe, ihn an der Nase fasse und sage: ›Nun mein Lieber, komm einmal mit‹?

       (Knabenalter)

      Es ist oft zu beobachten, daß in bezug auf Schlauheit ein dummer Mensch klügere leitet.

       (Krieg und Frieden)

      Für die besten, freundschaftlichsten und einfachsten Beziehungen sind Lob und Schmeichelei ebenso unentbehrlich wie die Schmiere für das Wagenrad.

       (Krieg und Frieden)

      Er war einer jener Theoretiker, welche ihre Theorie so sehr lieben, daß sie das Ziel derselben darüber vergessen – ihre Anwendung auf die Praxis. Aus Liebe zur Theorie verabscheute er auch jede Praxis und wollte nichts davon wissen.

       (Krieg und Frieden)

      Über Recht und Unrecht zu entscheiden, ist dem Menschen nicht gegeben. Der Mensch hat immer geirrt und wird immer irren und in keiner Beziehung mehr als in der Beziehung auf das, was er für Recht und Unrecht hält.

       (Krieg und Frieden)

      »Ein Merkmal der Entartung unserer Welt«

      Er fragte eine sehr einfach Sache; er fragte: warum und mit welchem Recht die einen Menschen die anderen einsperren, quälen, verschicken, peitschen und töten? Obgleich sie selber genau eben solche Leute sind, wie diejenigen, die sie quälen, peitschen und töten.

       (Auferstehung)

      Warum fehlt all diesen hochentwickelten humanen Menschen, die in ihrer Gesamtheit zu jedem ehrenvollen humanen Werk fähig sind, das gewöhnliche menschliche Gefühl für ein persönliches gutes Werk? Warum finden alle diese Menschen, die in ihren Parlamenten, Meetings und Vereinen mit solchem Eifer für die Lager der ehelosen Chinesen in Indien, für die Verbreitung des Christentums und der Zivilisation in Afrika und für die Gründung von Vereinen zur Besserung der gesamten Menschheit sorgen, in ihrem Herzen nicht die einfachen, ursprünglichen Gefühle des Menschen für den Menschen? Ist denn dieses Gefühl gänzlich ausgestorben, und ist an seine Stelle der Ehrgeiz und der Eigennutz getreten, von denen sich diese Leute in ihren Parlamenten, Meetings und Vereinen leiten lassen? Widerspricht denn die Verbreitung des Prinzips eines vernünftigen und egoistischen Zusammenwirkens von Menschen, das man Zivilisation nennt, dem Bedürfnis eines instinktiven und selbstlosen Zusammenwirkens?

       (Luzern)

      Wir sind so verstrickt, daß wir durch jeden Schritt im Leben am Bösen teilnehmen: an der Gewalt, wie der Unterdrückung. Wir dürfen nicht verzweifeln, aber müssen uns langsam aus dem Netz befreien, in dem wir gefangen sind; nicht zappeln – sonst verwickelt man sich noch mehr – sondern langsam entwirren.

       (Tagebücher)

      Zu etlichen Hunderttausenden hatten sich die Menschen auf einem einzigen kleinen Fleck angesammelt, und wie sehr sie sich auch Mühe gaben, die Erde, auf der sie sich preßten und drängten, zu verunstalten, sie mit Steinen zu verrammeln, damit nichts darauf wüchse, jedes Gräschen, das sich ans Licht wagte, sogleich auszujäten, die Luft mit Steinkohlen- und Naphthadünsten zu vergiften, die Bäume zu beschneiden und alle Tiere, alle Vögel zu verjagen – der Frühling war doch Frühling geblieben, sogar in der Stadt. Die Sonne wärmte, das neubelebte Gras wuchs und grünte überall, wo es nur irgend nicht ausgerissen war, nicht allein auf den Rasenplätzen der Boulevards, sondern auch zwischen den Steinplatten, und die Birken, die Pappeln, die Traubenkirschen entfalteten ihre harzigen, duftenden Blätter, die Linden trieben ihre platzenden Knospen; die Dohlen, Spatzen und Tauben machten schon in froher Lenzstimmung ihre Nester zurecht, und die Fliegen summten im warmen Sonnenschein an den Wänden. Froh waren sie alle, die Pflanzen, die Vögel, die Insekten und die Kinder. Die Menschen aber – die großen, erwachsenen Menschen – hörten nicht auf, einander zu betrügen und zu quälen. Die Menschen waren der Meinung, heilig und wichtig sei nicht dieser Frühlingsmorgen, nicht diese Schönheit der Gotteswelt, die zur Beseligung aller Wesen gegeben ist und alle Herzen zum Frieden, zur Eintracht, zur Liebe stimmt – heilig und wichtig sei vielmehr das, was sie selbst sich ausgedacht haben, um über einander zu herrschen.

       (Auferstehung)

      Die Zivilisation ist das Gute, die Barbarei das Böse; die Freiheit ist das Gute, die Unfreiheit das Böse. Dieses imaginäre Wissen vernichtet in der menschlichen Natur das instinktive, selige ursprüngliche Streben nach dem Guten. Wer kann definieren, was Freiheit, was Despotismus, was Zivilisation und was Barbarei ist? Wo sind die Grenzen zwischen diesen Begriffen? Wer hat in seiner Seele einen so unfehlbaren Maßstab für Gut und Böse, daß er mit ihm alle die flüchtigen und verworrenen Tatsachen zu messen vermöchte? Wessen Verstand ist so groß, daß er auch nur die Tatsachen der starren Vergangenheit umfassen und wägen könnte? Und wer hat schon je einen Zustand gesehen wo Gut und Böse nicht miteinander vermengt wären? Und wenn ich mehr von dem einen als von dem andern sehe, woher weiß ich denn, daß ich die Dinge vom richtigen Gesichtspunkte aus betrachte? Wer ist imstande, sich im Geiste, wenn auch nur für einen ganz kurzen Augenblick, so vollkommen vom Leben loszulösen, daß er es ganz objektiv von oben herab betrachten könnte? Wir haben nur einen unfehlbaren Führer: den Weltgeist, der uns alle und jeden einzelnen wie eine Einheit durchdringt, der einem jeden das Streben nach dem,