Dabei verweile ich bewusst nicht bei den Theorien ethischer Kategorien und Konzepte. Die sind zwar hochinteressant, würden aber den Rahmen dieser kleinen Einleitung sprengen. Mir geht es vor allem darum, Ihnen etwas von der zeitlosen Kraft der Zehn Gebote deutlich zu machen. Weil ich glaube, dass ihre Botschaft heute genauso brisant und hilfreich ist wie vor 3000 Jahren.
Und jetzt lassen Sie uns eintauchen in die Welt des klugen Verhaltens. Früher nannte man so etwas gerne „Sittlichkeit“, „Anstand“, „Tugend“, heute „Moral“ oder eben „Ethik“. Vielleicht verbirgt sich dahinter aber vor allem die Frage nach der „Lebenseinstellung“ oder der „Haltung“, die ein Mensch braucht, um seinen Alltag nachhaltig bewältigen zu können. Insofern wünsche ich mir, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches nicht nur dem Geheimnis der Zehn Gebote auf die Schliche gekommen sind, sondern auch Lust haben, eine horizonterweiternde Lebenseinstellung zu wagen. Es lohnt sich.
Eine anregende Lektüre wünscht
Fabian Vogt
Einleitung
Er verkündete euch seinen Bund, den zu befolgen er euch gebot, die zehn Worte, und schrieb sie auf zwei Tafeln aus Stein.
Dtn 4,13
Zu Beginn müssen wir uns einen kleinen, aber feinen Unterschied bewusst machen: Wenn ein Mensch sich nur deshalb an bestimmte Regeln hält, weil er Angst hat, sonst bestraft zu werden, dann sind diese Regeln offensichtlich nicht besonders überzeugend. Oder sie wurden schlichtweg falsch interpretiert und vermittelt.
Erkennt jemand dagegen, wie sinnvoll bestimmte Handlungsvorgaben sind, dann wird er sich im Normalfall gerne und freiwillig daran halten. Ganz einfach, weil er spürt: „Hey, wenn ich diesen Rat befolge, dann geht es mir gut. Und zwar richtig.“ Genau so waren und sind die Zehn Gebote gedacht.
Die Geburtsstunde des sogenannten „Dekalogs“ (das heißt „Zehn Worte“, wurde aber später meist mit „Zehn Gebote“ übersetzt) hat deshalb überhaupt nichts damit zu tun, dass hier einem verdorbenen Volk vom Herrgott mal ein paar Manieren beigebracht werden sollten – im Gegenteil, es geht um etwas viel Bedeutenderes: nämlich um die Freiheit. Um die große Kunst, ein freier Mensch zu sein und zu bleiben.
Dazu muss man wissen: Die Israeliten waren bei der Verkündigung der Zehn Gebote erst wenige Wochen zuvor aus der Sklaverei in Ägypten geflohen, wo man sie jahrzehntelang ausgebeutet und gezwungen hatte, unter übelsten Bedingungen Ziegel herzustellen. Das heißt: Eben noch waren diese Leute rechtlose, geknechtete, gedemütigte Leibeigene gewesen, jetzt zogen sie plötzlich als freie Menschen durch die Geröllwüste des Sinai.
Diese ungewöhnliche Erfahrung ist die Ausgangssituation der Zehn Gebote. Das heißt: Sie werden zu Menschen gesprochen, die sich gerade auf einem mutigen Weg in die Freiheit befinden, die sich aber mit der Freiheit noch gar nicht auskennen, weil sie ja als Sklaven niemals selbst Verantwortung für ihr Leben übernehmen mussten.
Sprich: Um die spürbare Unsicherheit der Flüchtlinge zu überwinden, gibt Gott seinem Volk einen „Leitfaden für das Leben in Freiheit“ an die Hand, unter dem Motto: „So sorgt man dafür, dass man frei bleibt.“ Diese ursprüngliche Absicht der Zehn Gebote müssen wir uns immer vor Augen halten, wenn wir sie in unsere Zeit übertragen wollen.
Die dramatische Geschichte vom Exodus des Volkes Israel, also: vom verwegenen Auszug aus der ägyptischen Gefangenschaft, hat übrigens jeder gläubige Jude parat, wenn er das Wort „Gebote“ hört. Und das seit Jahrtausenden. Im Alten Testament heißt es nämlich wörtlich: „Wenn dein Kind dich morgen fragt: ‚Was sind das eigentlich für Gebote, die uns Gott gegeben hat?‘, dann sag ihm: ‚Wir waren Knechte des Pharaos in Ägypten, und Gott hat uns mit mächtiger Hand aus der Sklaverei geführt. Und dann gab er uns die Gebote, damit es uns gut gehen soll.“ (Deuteronomium 6,21 f.)
Diese knackigen Verse fassen die wesentlichen Perspektiven für das Verständnis der Zehn Gebote wunderbar zusammen: Der Dekalog ist Teil eines umfassenden Befreiungserlebnisses, er resultiert aus einer existentiellen Erfahrung und wurde formuliert, um die frisch gewonnene Freiheit der Menschen dauerhaft zu sichern – nicht, um ihre Freiheit in irgendeiner Form einzuschränken. Und weil diese Geschichte so bedeutsam ist und entscheidende Deutungsmuster für die Auslegung der Gebote liefert, sollten wir sie noch einmal ein wenig genauer betrachten.
Eines Tages erlebt der Viehhirte Mose – der zwar am ägyptischen Königshof aufgewachsen war, aber dann auf den Sinai fliehen musste – eine seltsame Naturerscheinung: Vor seinen Augen brennt mitten in der Steppe ein Dornbusch. Das kann in der heißen Wüstensonne zwar immer mal passieren, aber dieser Busch steht in Flammen, ohne zu verbrennen. Äußerst faszinierend!
Und dann hört Mose aus dem Feuerspektakel auch noch die Stimme Gottes, die ihm einen Auftrag erteilt: Er soll das Volk Israel aus der Sklaverei führen. Oha! Interessanterweise wird übrigens schon an dieser Stelle der Geschichte angedeutet, dass der Mensch mit seiner Freiheit leider nicht immer alleine zurechtkommt: Mose ist zwar ein freier Mann – trotzdem hat er unglaubliche Angst, Verantwortung zu übernehmen. Er lehnt den Auftrag nämlich erst mal ab. Weil er gar nicht genau weiß, wer dieser Gott ist, der ihn da ruft, weil er sich vor dem Pharao fürchtet und weil er sich nicht für einen begabten Redner hält.
Erst als Gott dem zögernden Mann seinen Namen nennt (er heißt „Jahwe“, übersetzt: „Ich bin, der ich bin.“ oder „Ich bin der, der immer bei dir ist.“), ihm mehrfach seine Unterstützung garantiert und ihm sein absolutes Vertrauen ausspricht, wagt Mose es, die abenteuerliche Aufgabe zu übernehmen. Er braucht also göttlichen Beistand und Ratschlag, um seine Freiheit sinnvoll gestalten zu können. Ein wichtiges Motiv, das die Bibel von Anfang bis Ende durchzieht: Da, wo ein Mensch ganz auf Gott vertraut, wird er zu dem, der er sein könnte.
Die buschige Begegnung offenbart aber auch noch einen anderen Wesenszug Gottes, der für unser Thema relevant ist. Gott sagt nämlich zu Mose: „Ich habe das Leiden meines Volkes erkannt, darum will ich es erretten.“ Anders ausgedrückt: Gott möchte nicht, dass irgendjemand als Sklavin und Sklave leben muss. Es ist sein ureigener Wille, dass sich jede und jeder frei entfalten kann.
Diese himmlische Sehnsucht nach Freiheit kann man getrost ins 21. Jahrhundert übertragen. Denn auch heute gilt: Gott wünscht sich nichts mehr als Menschen, die nicht in irgendwelchen Strukturen, Systemen oder Ängsten gefangen sind, sondern die befreit leben und handeln. Das ist einer der Gründe, warum wir weiter einen „Leitfaden für das Leben in Freiheit“ brauchen.
Nun denn! Als Mose dem Pharao einige Wochen später forsch mitteilt, dass dieser die Israeliten doch bitte freilassen möge, geht es in Ägypten natürlich erst mal drunter und drüber. Der sich selbst als Gottheit empfindende Herrscher hat nämlich überhaupt keine Lust, sich von so einer komischen Feuerstimme die preiswerten Arbeitskräfte wegnehmen zu lassen.
Daraufhin schickt ihm Gott einige ziemlich garstige Plagen, an deren Ende der Pharao dann doch klein beigibt. Allerdings nur vorübergehend. Denn kaum hat sich das Volk mit Sack und Pack auf den Weg in die Freiheit gemacht, überlegt der wankelmütige Mann es sich anders und jagt den ehemaligen Sklaven mit seinen Truppen und Streitwagen hinterher.
Wenig später kommt es dann zum großen Showdown am Roten Meer: Mose erhält nämlich angesichts der heranstürmenden ägyptischen Krieger von Gott die Kraft, das Wasser zu teilen – das Volk joggt über den trockengelegten Meeresgrund – und als der Pharao mit seinen Soldaten ebenfalls das sichere Ufer hinter sich lässt, stürzen die Fluten über ihm zusammen. Die Erfindung der Seebestattung. Und das fliehende Volk ist frei. Endlich!
Könnte man jedenfalls denken. Doch schon in den kommenden Tagen zeigt sich, dass Freiheit Herausforderungen mit sich bringt. Zum Beispiel fragen sich die frisch Geflüchteten schon bald: „Welcher Weg führt denn eigentlich in dieses gelobte Land, in dem