Noch wichtiger aber könnte die Frage sein: Geht es bei diesen zehn Richtlinien vor allem um himmlische Vorschriften – oder eher um faszinierende AnGebote für ein befreites Leben? Legen diese Regeln den Menschen Fesseln an oder erweisen sie sich als äußerst kluge Richtschnur, die ermutigt, selbst Verantwortung für sich und andere zu übernehmen?
Postmodern darf man zudem fragen: Gelten die Zehn Gebote wirklich überall, also auch in der virtuellen Realität, in der wir in Zockerspielen fröhlich Zombies wegballern? Sprich: Kann man mit solchen antiken Ideen heute ernsthafte Aussagen über Atomkraft, Populismus, die Klimaerwärmung und den Sinn oder Unsinn von Katzenvideos treffen? Und: Reicht es nicht auch, wenn man nur, sagen wir mal, sieben der Gebote hält?
Fragen über Fragen. Kein Wunder: Die Zehn Gebote bewegen die Menschheit seit Jahrtausenden. Ja, sie sind so etwas wie eine Grundordnung der humanen Existenz. Das erkennen sogar diejenigen an, die mit dem Glauben gar nicht viel am Hut haben. Vielleicht, weil jede und jeder ahnt: Ohne Werte funktioniert die Welt nicht. Wenn einzelne Personen, Kommunen oder ganze Staaten dauerhaft zusammenleben wollen, denn braucht es dafür nun mal gemeinsame „Spielregeln“, sinnvolle Grundsätze, nach denen das Miteinander gestaltet wird.
Außerdem steht jedes Individuum ständig vor der Herausforderung, relevante Entscheidungen treffen zu müssen: Da kann es gewiss nicht schaden, wenn wir gewisse Vorstellungen davon haben, welches Verhalten sich wohl als „klug“ und welches sich als „eher unklug“ erweisen könnte. Anders ausgedrückt: Ich möchte wissen, was gut und richtig ist, damit ich mein Leben anständig gestalten kann. Und offensichtlich versteht sich das „Tun des Richtigen“ nicht von selbst. Jedenfalls nicht so, dass sich alle gleichermaßen daran halten würden.
Tja, und nun kamen da schon vor Jahrtausenden einige beseelte Menschen daher und erklärten frech: „Hier, in diesen Zehn Geboten steckt eigentlich alles drin, was man wissen muss, um eine starke Gemeinschaft aufzubauen … und um als Einzelner in seinem Leben die richtigen Entscheidungen zu fällen.“ Eine ziemlich steile These. Finde ich. Und ich würde gerne mit Ihnen in diesem kleinen Buch mal neugierig schauen und prüfen, ob sie denn stimmt. Dabei verspreche ich Ihnen schon jetzt: Das wird ein äußerst faszinierender und anregender Streifzug durch die wunderbare Welt existentieller Prinzipien – und damit zugleich ein fröhlicher Ausflug ins Land der Lebenskunst.
Eines kann man jedenfalls sofort sagen: Die Zehn Gebote gehören bis heute zum Fundament unserer europäischen Kultur. Und sie sind nach wie vor einer der bekanntesten Bibeltexte überhaupt. Vielleicht auch deshalb, weil sie – wenn man den Überlieferungen trauen mag – die allerersten Worte sind, die in der Geschichte des Volkes Israel für die Nachwelt schriftlich festgehalten wurden. Und weil tatsächlich im Alten Testament stolz erwähnt wird, Gott habe die Gebote wahrhaftig mit eigener Hand geschrieben (womit schon die erste der Anfangsfragen beantwortet wäre).
Nebenbei: Allein das ist eine literarische Sensation! Schließlich hat der Schöpfer des Himmels und der Erde weder vorher noch nachher jemals wieder persönlich zu einem Schreibgerät gegriffen. Unglaublich, oder? Verständlich, dass dieses einzigartige „Manuskript“ lange Zeit in der „Bundeslade“, also einem besonders edlen Schmuckkasten, aufbewahrt wurde – und schade, dass das Original trotzdem irgendwann verloren ging.
Unbestreitbar bleibt aber: In den Zehn Geboten stecken viele Ideen, die unsere Gesellschaft bis heute deutlich prägen. Zum Beispiel die Sieben-Tage-Woche. Die war in der Antike nämlich keineswegs selbstverständlich, sondern wurde durch das Judentum und die Zehn Gebote massiv gepuscht. Und dass wir jede Woche einen freien Tag haben, um zu regenerieren und das Leben zu feiern, nämlich den Sonntag (zumindest ist er in den meisten Berufen frei), verdanken wir ebenfalls dieser uralten Ideensammlung eines wüsten Wüstenvolks – in dem später einige Idealisten durch Jesus und seine Jünger angeregt wurden, ein derart kostbares Gedankengut auch dem Rest der Welt kundzutun.
Kritiker bemerken allerdings gerne, dass es die meisten der Zehn Gebote vorher auch schon in anderen Religionen gab und fragen dementsprechend, ob sich hinter der viel gepriesenen biblischen Auflistung von Verhaltensnormen nicht vielmehr eine Art „universelles Sittengesetz“ verbirgt, ein „Naturrecht“, das der Mensch als Rudelwesen ohnehin im Blut hat. Anders ausgedrückt: Braucht es überhaupt so etwas wie Religion, um sich vernünftig zu benehmen?
So ganz unrecht haben diese Leute nicht: Natürlich kennen auch andere Kulturen ethische Maßstäbe, teilweise ganz ergreifende – und einige davon sind sogar in einer ähnlichen Zeit entstanden, etwa der Buddhismus oder die Lehren von Konfuzius und Laotse. Selbst die Entdecker von Australien waren (viele Jahrhunderte später) total überrascht, als sie feststellten, dass die dortigen Ureinwohner, die Aborigines, sehr ausgefeilte Verhaltensnormen hatten, nach denen sie ihre Stämme organisierten – obwohl sie noch nie etwas von den Zehn Geboten oder vom Volk Israel gehört hatten. Erstaunlich!
Forscher haben zudem herausgefunden, dass viele Tiergattungen ihr Miteinander ebenfalls nach klaren Regeln gestalten – Regeln, an die sich die meisten Geschöpfe halten, weil sonst die Strukturen des Rudels, des Schwarms oder der Herde ganz schnell zusammenbrechen würden. Es scheint also tatsächlich ein ganz natürliches Streben nach verbindlichen Prinzipien für den Erhalt einer Gemeinschaft zu existieren. Was ja eine ziemlich beruhigende Erkenntnis darstellt.
Trotzdem gibt es etwas, das die Zehn Gebote von fast allen anderen ethischen Ordnungen unterscheidet. Sozusagen ein markantes Alleinstellungsmerkmal. Und dieses Alleinstellungsmerkmal lautet: Die Zehn Gebote sind Teil einer großen Geschichte. Eines größeren Ganzen. Das bedeutet: Ihren tieferen Sinn versteht man nur, wenn man die dazugehörige Geschichte kennt. Ja, erst diese Geschichte macht aus einer Ansammlung von Regeln ein einzigartiges „Gesamtkunstwerk“, das dem Menschen eine unfassbar befreiende Lebensperspektive schenkt.
Es ging Gott bei den Zehn Geboten nämlich nie um das sklavische Einhalten einer Ordnung im Sinne einer diktatorischen Norm, sondern um eine kluge Gestaltungsvorlage für die Freiheit, die er den Menschen schenken möchte. Und wer diese Gebrauchsanweisung verinnerlicht, der lebt anders als vorher: heiterer, entspannter, leidenschaftlicher, vor allem aber bewusster.
Deshalb irren sich alle, die diese Maximen im Lauf der Jahrhunderte als Droh-Botschaft verstanden und genutzt haben. Und bedauerlicherweise waren das ziemlich viele. Erschreckend viele sogar. Ganze Generationen wurden damit gequält und verstört, dass man ihnen erklärt hat: „Wenn du dich nicht brav an die Zehn Gebote hältst, dann kommst du in die Hölle.“ Das ist Quatsch! Und war niemals so gedacht.
Gott denkt sich doch keine Regeln aus, die Menschen Angst machen. Wer so etwas meint, der hat das Wesentliche des christlichen Glaubens nicht verstanden. Gott, von dem es heißt, dass „er die Liebe ist“, möchte, dass es den Menschen gut geht. Und die Zehn Gebote wollen keine Geißeln oder Schrecken sein, sondern eine „Gebrauchsanleitung fürs Leben“. Lebenskluge Ratschläge, die dem Menschen quasi „auf den Leib“ geschrieben sind. Deshalb kann man sie auch so schön an zehn Fingern abzählen.
In Psalm 119 steht der großartige Satz: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg.“ Genauso sollte man die Zehn Gebote verstehen: Sie sind wie zehn Lichter, zehn Leuchttürme, die das Leben hell machen können und den Weg weisen. Wie das genau funktioniert, das werden wir uns auf den folgenden Seiten in aller Ruhe anschauen.
Nun fragen sich einige unter Ihnen eventuell: Warum hat diese Einführung in die Zehn Gebote den anmaßenden Titel „Handbuch“? Ganz einfach: Möchte man im 21. Jahrhundert irgendwoher Antworten bekommen – etwa, weil der Computer kryptische Warnmeldungen ausspuckt, das Auto quietscht und qualmt, ein unbekanntes, zwei Meter langes Reptil im Garten herumkriecht oder die Liebesbeziehung in die Weltfinanzkrise gerät – dann besorgt man sich (im Internet oder in haptischer Form) – genau: ein Handbuch. Zum Nachschlagen. Und zum Lösungen-Finden.
Nun, das, was Sie gerade in den Händen halten, versteht sich in diesem Sinn als Handbuch.