Natürlich gibt es sie nicht, wie es der Titel dieses Buchteils suggerieren mag: die eine Lernendenperspektive auf das Deutsche. Lernende gehen mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen an den Start: Sie sind verschiedenen Alters beim ersten SprachkontaktSprachkontakt und waren mehr oder weniger intensiv in Kontakt mit der deutschen Sprache; sie haben verschiedene Herkunftssprachen und möglicherweise bereits eine oder mehrere Fremdsprachen gelernt; sie lernen Deutsch in alltäglichen Situationen der zielsprachlichen Umgebung und/oder im Sprachunterricht; auch gibt es große Unterschiede in Bezug auf die Sprachlernbegabung und die Motivation für das Deutschlernen. Nur wer ein hohes Maß an Zielsprachlichkeit anstrebt, muss sich auch auf jene sprachlichen Bereiche einlassen, die aus kommunikativer Sicht kaum einen beachtenswerten Nutzen bringen, dafür aber mit einem hohen Lernaufwand verbunden sind. Obgleich jeder Lernende aufgrund individueller Voraussetzungen und Lernbedingungen der deutschen Sprache auf eigene Weise begegnet, lassen sich doch für alle sprachlichen Ebenen Charakteristika des Deutschen aufzeigen, die überindividuell als besondere Herausforderungen empfunden werden. Der Fokus in diesem ersten Teil des Studienbuches liegt auf einigen ausgewählten sprachlichen Phänomenen, von denen bekannt ist, dass sie (in Abhängigkeit phänomenspezifischer Konstellationen von Herkunfts- und Zielsprache) vielen Deutschlernenden Schwierigkeiten bereiten. Diese sprachlichen Bereiche werden (wo es sich anbietet aus kontrastiver Perspektive) so dargestellt, dass die potenziellen Schwierigkeiten nachvollziehbar werden, um im Anschluss daran erste Anregungen zu geben, wie den Lernenden geholfen werden kann, diese zu überwinden bzw. sie gar nicht erst aufkommen zu lassen.
1 Prosodische und lautliche Aspekte
Auch weit fortgeschrittene Deutschlernende zeigen mitunter einen „merklichen Akzent“ (Hirschfeld & Reinke 2018: 15). Die Aussprachefähigkeit lässt sich nicht ohne Weiteres linear an Sprachniveaustufen koppeln, wie es der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen (GeR) vorgibt, der beispielsweise dem B1-Niveau noch einen „fremden Akzent“ zugesteht, auf dem B2-Niveau aber bereits eine „natürliche Aussprache und Intonation“ erwartet (ebd. 15).
1 Versuchen Sie anhand der unter www.meta.narr.de/9783823383222 bereitgestellten drei verschiedenen Sprachproben herauszuhören, worin sich diese von der standardnahen Aussprache des Deutschen unterscheiden.Berücksichtigen Sie dabei insbesondere die Wortbetonung (welche SilbeSilbe(n) werden besonders betont?), die Artikulation von mehreren Konsonantenhäufungen (KonsonantenclusterKonsonantencluster) am Silbenanfang oder am Silbenende, von Vokalen (lang / kurz) und von KonsonantenKonsonanten.
2 Tragen Sie Ihre Höreindrücke mit konkreten Beispielen von abweichenden Realisierungen in die folgende Tabelle ein.Sprachprobe 1L1: _________Sprachprobe 2L1: _________Sprachprobe 3L1: _________WortbetonungKonsonantenclusterKonsonantenclusterVokaleVokaleKonsonantenKonsonanten
3 Die drei Erstsprachen der Deutschlernenden sind Russisch, Italienisch und Türkisch. Ordnen Sie die Sprachproben den drei Erstsprachen (L1) zu. Woran haben Sie sich bei der Zuordnung orientiert?
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1.1 SprachrhythmusSprachrhythmus
Unter SprachrhythmusSprachrhythmus versteht man die bestimmten Regularitäten folgende zeitliche Gliederung lautsprachlicher Äußerungen (Pompino-Marschall 2009: 248). Entscheidend hierbei sind die prosodischen Grundeinheiten, von denen man annimmt, dass sie tendenziell in gleichmäßigen Abständen aufeinander folgen (Isochronie-HypotheseIsochronie-Hypothese). Bezüglich der zugrundeliegenden Einheiten lassen sich Sprachen dem akzentzählenden, silbenzählenden oder morenzählenden1 RhythmustypRhythmustyp zuordnen. Deutsch zählt zu den akzentzählenden Sprachen (wie auch Englisch, Niederländisch, Russisch). Bei diesem Rhythmustyp ist der Isochronie-Hypothese zufolge der Abstand zwischen den betonten Silben – also die Dauer eines Betonungsintervalls – annähernd gleich. Diese Einheit wird auch als FußFuß bezeichnet. Ein Fuß umfasst immer eine betonte SilbeSilbe und die dazugehörigen unbetonten Silben bzw. die unbetonten Silben bis zur nächsten AkzentsilbeAkzentsilbe. Bei den silbenzählenden Sprachen (z. B. Französisch, Spanisch, Türkisch) sind im Kontrast zu den akzentzählenden Sprachen die Betonungsintervalle von unterschiedlicher Dauer, die Silben als prosodische Grundeinheiten hingegen von gleicher Länge. Abb. 1.1 veranschaulicht die beiden Rhythmustypen. Dargestellt sind mit Bezug zur Zeitachse die Silben (σ) mit Hervorhebung der Akzentsilbe und die akzenttragenden Intervalle, die prosodischen Füße (Σ). Durch die Visualisierung wird deutlich, dass bei den akzentzählenden Sprachen, deren Betonungsintervalle tendenziell gleich lang sind, bei mehrsilbigen Füßen ein gewisser KomprimierungsdruckKomprimierungsdruck auf den unbetonten Silben lastet. In Abb. 1.1 sind sie daher deutlich kürzer dargestellt als die Akzentsilben. Der Komprimierungsdruck verursacht VokalreduktionVokalreduktion oder VokaltilgungVokaltilgung und kann sogar zum SilbenausfallSilbenausfall führen. So wird im Deutschen der ReduktionsvokalReduktionsvokal [ə] (der sog. Schwa-LautSchwa-Laut) oft gar nicht realisiert (z. B. spricht man Vogel laut DUDEN-Aussprachewörterbuch [fo:.gl] und Garten als [gar.tn] aus und nicht etwa [fo:.gəl] und [gar.tən]. In einigen Kontexten wirkt der Schwa-Laut silbenbewahrend (z. B. sehen, rennen, einen). Wird er an diesen Stellen getilgt, kommt es zum Silbenausfall. Damit ist dann in der akustischen Wahrnehmung beispielsweise die Akkusativform des indefinten Artikels (einen [ʔaɪ.nən] → [ʔaɪ.nən] → [ʔaɪn]) kaum mehr zu unterscheiden von der einsilbigen Nominativform ein, was sich erschwerend auf den Erwerb des nominalen Flexionsparadigmas auswirkt.
akzentzählendsilbenzählendIdealisierte Isochronie des akzentzählenden und silbenzählenden Rhythmustyps
Auch wenn die Isochronie-HypotheseIsochronie-Hypothese in ihrer strengen Form messphonetisch nicht aufrechterhalten werden kann, lassen sich in den Sprachen der unterschiedlichen Rhythmustypen verschiedene phonologische Merkmale beobachten, die als Auswirkungen einer Isochronie-Tendenz verstanden werden können (Pompino-Marschall 1995: 236).
Einige dieser Merkmale sind (neben der bereits erwähnten VokalreduktionVokalreduktion) in Tab. 1.1 dargestellt. Wir beschränken uns im Folgenden auf den akzentzählenden und den silbenzählenden Typ und vernachlässigen den eher selten vorkommenden morenzählenden Rhythmus (z. B. im Japanischen).
silbenzählende Sprachen (z. B. Türkisch) | akzentzählende Sprachen (z. B. Deutsch) |
einfache SilbenstrukturSilbenstruktur (präferiert KV) | verschiedene, teils komplexe Silbenstrukturen |
klare Silbengrenzen | Ambisilbizität (Silbengelenk)Silbengelenk2 |
keine VokalreduktionVokalreduktion | VokalreduktionVokalreduktion in unbetonten Silben |
keine distinktive VokalquantitätVokalquantität | distinktive VokalquantitätVokalquantität |