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Rund 40 % der Kinder unter fünf Jahren in Deutschland haben einen Migrationshintergrund (Stat. Bundesamt 2019)2. Ein großer Anteil dieser Kinder ist zu Hause mit mindestens einer weiteren Sprache in Kontakt. Wie intensiv beispielsweise Mutter oder Vater ihre Herkunftssprache(n) mit den Kindern nutzen, wie gut und gerne die Kinder diese Sprachen sprechen, welche Sprachen die Geschwister oder die Freunde sprechen, ist allerdings höchst unterschiedlich. Die drei Mädchen, die in Kasten 1 ihre Mehrsprachigkeit beschreiben, können nur einen kleinen Ausschnitt der Vielfalt der Szenarien abbilden, wie Kinder mit verschiedenen Sprachen aufwachsen. Viele Wege führen in die Mehrsprachigkeit: Jedes Elternteil spricht eine oder mehrere Sprachen, die Familiensprache unterscheidet sich von der Umgebungssprache, ein längerer Aufenthalt in einem anderen Land erfolgt, Sprachen werden in der Schule gelernt und so weiter. All diese Umstände und persönliche Entscheidungen können zu Mehrsprachigkeit bei Kindern (und Erwachsenen) führen und hierbei zu jeweils individuellen Erwerbsprofilen.
Ungeachtet dessen sucht die Forschung nach interindividuellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, um auf der Basis gewisser Übereinstimmungen spezifische Erwerbs(typ)gruppen zu identifizieren. Der monolinguale Erstspracherwerb der Zielsprache (in diesem Buch des Deutschen) dient hierbei in der Regel als Vergleichsbasis. Man betrachtet verschiedene sprachliche Phänomenbereiche (z. B. Phoneminventar, NominalflexionNominalflexion, Wortstellung) des Deutschen und vergleicht den diesbezüglichen Erwerbsverlauf, die Erwerbsgeschwindigkeit und den erreichten Endzustand.
Da Kinder im ungesteuerten3 Erwerb einer weiteren Sprache im Allgemeinen erfolgreicher zu sein scheinen als Erwachsene und dieser Erwerbsvorteil nach Erklärungen verlangt (vgl. u.a. Pagonis 2009), lag und liegt ein besonderer Fokus der Spracherwerbsforschung auf dem Alter zu Erwerbsbeginn. Nach der wohl bekanntesten Hypothese der Kritischen PeriodeKritische Periode (u.a. Lenneberg 1967) schließt sich im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren aufgrund neuronaler Reifungsprozesse das Zeitfenster, in dem die bei Geburt vorhandene Spracherwerbsfähigkeit zur Verfügung steht. Danach sei eine Sprache nicht mehr beiläufig im Kontakt mit Sprechern dieser Sprache zu erwerben, sondern müsse nun bewusst und mit gewissen Anstrengungen erlernt werden. Die Hypothese der Kritischen Periode erfreute sich zwar einer großen Anhängerschaft, konnte aber empirisch nie bestätigt werden. Eine deutlich differenziertere Sicht auf den Zweitspracherwerb bietet das (sich an der Idee der Kritischen Periode anlehnende) Konzept der sensiblen Phasen, demzufolge es für spezifische sprachliche Phänomenbereiche bestimmte Zeitfenster gibt, in denen der L2-Erwerb dem L1-Erwerb (nahezu) gleicht (Meisel 2007). Nach dem Verstreichen des für ein bestimmtes grammatisches Phänomen (z. B. Wortstellung) anzunehmenden optimalen Zeitfensters lassen sich in der Lernersprache Merkmale beobachten, die in dieser Ausprägung im L1-Erwerb nicht vorkommen. So gleicht der Erwerb der Wortstellung (siehe Kapitel 12) im ErwerbsalterErwerbsalter von 3-4 Jahren weitgehend dem Erwerb der Wortstellung monolingualer Kinder (Tracy 2007). Sind die Kinder bei L2-Kontakt jedoch schon 6-7 Jahre alt, dann treten im Satzbau zielsprachliche Abweichungen auf, die wir im monolingualen Erwerb deutschsprachiger Kinder so nicht beobachten können und die z.T. auf den Einfluss der Erstsprache zurückzuführen sind (Haberzettl 2005).
Mit voranschreitendem ErwerbsalterErwerbsalter – so die Annahme – wird die Lernersprache der von Erwachsenen im ungesteuerten Erwerb zunehmend ähnlicher (Meisel 2007). Auf diesem Weg scheinen einige Zeitfenster besonders relevant, die dann auch in der Erwerbsliteratur wiederkehrend zur Klassifizierung von Spracherwerbstypen herangezogen werden.
Eine übliche Einteilung mehrsprachiger Kinder basiert somit auf der Chronologie des Erwerbs zweier oder mehrerer Sprachen: Als Erstsprache (= L1) wird die Sprache verstanden, die meist im familiären Kontext von Geburt an erworben wird. Beim simultanen oder doppelten ErstspracherwerbErstspracherwerb, doppelter (2L1; manchmal auch bilingualer Erstspracherwerb) erwirbt ein Kind von Geburt an zwei Sprachen4. Vom simultanen ErwerbErwerb, simultaner wird der sukzessive ErwerbErwerb, sukzessiver abgegrenzt, bei dem der Erwerb einer zweiten (bzw. weiteren) Sprache erst dann einsetzt, wenn der Erwerb der ersten Sprache(n) „zumindest in den Grundzügen vollzogen ist“ (Rothweiler 2007: 106). Beim sukzessiven Erwerb unterscheidet man zwischen kindlichem Zweitspracherwerb und Zweitspracherwerb von Jugendlichen und Erwachsenen. Wie in Abb. 0.1 dargestellt, wird in Bezug auf die Kindheit noch eine weitere Differenzierung nach frühemZweitspracherwerb, früher (ab 3-4 Jahren) und spätemZweitspracherwerb, später (ab 6-7 Jahren) Zweitspracherwerb vorgenommen (siehe u.a. Rothweiler 2007; Schulz & Grimm 2019).
Der simultane Erwerb von zwei und mehr Sprachen wird nur allzu oft als Erfolgsgarant beschrieben. So heißt es beispielsweise in Meisel (2007: 97), dass bilingual aufwachsende Kinder „eine grammatische Kompetenz [erreichen], die sich qualitativ nicht von der vergleichbarer Monolingualer unterscheidet“ (Meisel 2007: 97). Hingegen seien bei einem zeitlich später einsetzenden Erwerb einer weiteren Sprache nicht alle Lernenden erfolgreich (Meisel 2007: 99).
Spracherwerbstypen der Zwei-/Mehrsprachigkeit in chronologischer Abfolge (eigene Grafik, D.B.).
Auf der Zeitachse, die das ErwerbsalterErwerbsalter in Jahren darstellt, sind durchgehende und gestrichelte Linien zu sehen. Während in Bezug auf die mit durchgehender Linie markierten Intervalle in der Erwerbsliteratur weitgehende Einigkeit herrscht, wird der gestrichelt markierte Abschnitt entweder dem darüber angeordneten oder dem rechts davon stehenden Erwerbstyp zugeordnet.
Die in Abb. 0.1 dargestellte Unterteilung in Spracherwerbstypen der Zwei-/Mehrsprachigkeit, die auch vielen Erwerbsstudien zugrunde liegt, wird der Komplexität mehrsprachiger Profile natürlich keineswegs gerecht. Folgt man einer chronologischen Betrachtungsweise, wären die Kinder in Kasten 1 als simultan-bilingual bzw. -multilingual zu bezeichnen, da sie von Geburt an mit mehreren Sprachen aufgewachsen sind und die jeweiligen Sprachen (Ukrainisch, Kurdisch, Türkisch, Englisch, Deutsch) von einem Elternteil zu Hause gesprochen werden. Die lebensweltliche Mehrsprachigkeitsrealität entspricht allerdings nicht bei jedem der Kinder den zuvor skizzierten Erwartungen. Das heißt, auf der Basis einer chronologischen Nomenklatur wie „simultaner Erstspracherwerb“ oder „früher Zweitspracherwerb“ können keine verlässlichen Aussagen über tatsächlich erreichte Kompetenzen getroffen werden. Genauso wie Kompetenzunterschiede zwischen den Sprachen bei simultan-bilingual aufwachsenden Kindern erwartet werden können, führt auch ein Beginn des Zweitspracherwerbs bei Schuleintritt oder später nicht notwendigerweise zu reduzierten Sprachkompetenzen in dieser Sprache. Während neurobiologische Veränderungen im Laufe von Kindheit und Jugend, die auch u.a. das Sprachlernen beeinflussen, unbestritten sind, zeigt sich in vielen Studien, dass das ErwerbsalterErwerbsalter zwar ein Faktor sein kann, aber keinesfalls der einzige und möglicherweise auch nicht der entscheidende.
Würde man die sprachlichen Hintergründe der oben vorgestellten mehrsprachigen Kinder systematisch untersuchen, ergäbe sich ein komplexes Geflecht von Faktoren, die sich verschiedentlich auf die sprachlichen Kompetenzen in den jeweiligen Sprachen auswirken.
Auf einige der potenziellen EinflussfaktorenEinflussfaktoren sei im Folgenden kurz eingegangen:
Neben dem Zeitpunkt des Erstkontakts mit der L2 wird in den meisten Erwerbsstudien auch die KontaktdauerKontaktdauer mit der L2 angegeben. Seltener, weil auch schwerer zu ermitteln, wird jedoch die Intensität des KontaktsIntensität des Kontakts mit den jeweiligen Sprachen berücksichtigt: Während eine Kontaktdauer von beispielsweise sechs Jahren bei einem sechsjährigen Kind mit dem ErwerbsalterErwerbsalter (= Geburt) gleichgesetzt werden könnte, erweist sich diese Angabe bei genauerer Betrachtung als zu grob. Der Umfang des Sprachkontakts kann innerhalb von Familien mit bilingualem Sprachangebot (Mutter Sprache 1, Vater Sprache 2), und sogar auch zwischen Geschwistern, erheblich