Erkennen, akzeptieren und erforschen
Wenn wir über die Umbrüche in der Welt schimpfen, dann wird sich die Welt dafür kaum interessieren. Sie wird sich einfach weiter verändern. Ob es die aktuell zu erlebende Zuwanderung ist mit den damit verbundenen gesellschaftlichen Umbrüchen, oder eine persönliche Krise, eine Krankheit oder ein Schicksalsschlag: Wir können mit Furcht darauf reagieren, uns Gitterstäbe zulegen, uns klamm und eng machen und eine angstbestimmte Perspektive einnehmen –, oder wir können einen ruhigen Geist bewahren und mit dem nötigen Abstand und innerer Gelassenheit kluge Optionen entwickeln. Wir können uns immer entscheiden. Jeder von uns hat diesen Handlungsspielraum.
Hinter jeder Krise oder Katastrophe verbergen sich Entwicklungschancen – wenn wir sie erkennen. Ob Kündigung, Krankheit, Scheidung, Unfälle, finanzielle Nöte, gesellschaftliche Verwerfungen oder gar Terrorgefahr: Das Gefühl, am Abgrund zu stehen, kann ein hervorragender Nährboden für persönliches Wachstum sein. Wenn wir erkennen, dass in den Verwerfungen des Lebens große Potenziale stecken, schwindet nach einer Weile sogar die Angst. Falls du gerade in einer Krise steckst, möchte ich dir Mut machen, dich wieder mit der kreativen Kraft des Lebens zu verbünden. Dabei hilft es unter anderem, anderen Meinungen und Sichtweisen nicht zwangsläufig zu viel Bedeutung einzuräumen.
Was ist wahr?
»Der Zufall ist im Weltenlauf der entscheidende Faktor. Wie sich die Dinge entwickeln werden, das können wir wohl kaum aus den Schlagzeilen der Nachrichten ableiten«, sagte einst ein kluger Historiker zu mir.
Wir glauben jedoch unbeirrt, aus den Informationen der Medien etwas über die Zukunft ableiten zu können. Beinahe jeden Tag hören oder sehen wir derzeit Schlagzeilen wie: Europa steht vor der Explosion! Euro-Katastrophe hat dramatische Folgen! Flüchtlingswelle schwappt über Deutschland!
Solche Nachrichten sind sehr geschickt formuliert. Schließlich sollen sich Nachrichten »verkaufen«. Starke Headlines, bunte Bilder, große Emotionen, kraftvolle Konflikte, These/Antithese. Wir springen darauf an und glauben, ein Abbild der existierenden Welt zu erfahren. Doch meistens lenken die Macher unsere Aufmerksamkeit nur auf Dinge, die keine direkte Relevanz für unser Leben haben oder die nicht in unserer Macht stehen. Und weg von den Dingen, die wir tatsächlich beeinflussen können.
Deswegen konsumiere ich seit einiger Zeit deutlich seltener Webseiten, Blogs oder die klassischen Nachrichten im Radio und Fernsehen. Denn wenn ich nicht ständig mit diesen angeblich weltverändernden Informationen konfrontiert werde, mache ich mir deutlich weniger Sorgen um Ereignisse, die in den meisten Fällen so gar nicht eintreten werden. Ganz schön praktisch, nicht wahr?
Das bedeutet natürlich nicht, dass ich nicht mehr über gewisse Dinge nachdenke oder mich wegducke. Natürlich schaue ich wachsam hin und reagiere dort, wo ich es für sinnvoll halte. Manche Ereignisse lassen sich nun mal nicht »schönreden«. Das Rad des Lebens dreht sich, Geschenke und Prüfungen warten auf uns – und Ungerechtigkeit lässt sich nun mal nicht weglächeln. Über das Unangenehme haben wir keine Kontrolle. Doch über die Dosis der an mich herangetragenen Informationen habe ich eine Kontrolle. Und so akzeptiere ich das tägliche »rien ne vas plus« des großen Croupiers, der mein Leben leitet. Ich denke gerne über Licht und Schatten in meinem Umfeld nach, doch nicht über Hunderte von Meldungen, die mich über die Medien erreichen.
Cool bleiben
Wer mein Buch »how to get Gelassenheit« gelesen hat, der wird einen Teil der Gedanken aus diesem Kapitel schon kennen. Doch mir haben so viele Menschen geschrieben, dass ihnen diese Geschichte geholfen hat, mit Unsicherheit und Krisen besser klarzukommen, dass ich sie hier noch mal in überarbeiteter Form erzählen möchte:
Im Jahr 2005 werde ich für eine Sprachaufnahme in einem noblen Düsseldorfer Tonstudio gebucht. Im Regieraum sitzen die Geschäftsführer des Werbekunden und drei überaus wichtige Vertreter der Werbeagentur. Vor dem Mikrofon stehen eine Sprecherkollegin und ich. Wir sollen die Kampagne stimmlich zum Klingen bringen. So weit, so gut – könnte man meinen.
Nach der dreißigsten Aufnahme des Spots werde ich langsam nervös. Mal passt dem Kunden dieses nicht, dann den Werbeagentur-Fritzen jenes. Wir Sprecher scheinen uns von Minute zu Minute mehr als absolute Fehlbesetzung herauszustellen. So langsam kriechen Selbstzweifel und eine ungewohnte Nervosität in uns hoch. Unsere Souveränität schwindet dahin – und die Folgeversionen des Spots werden nicht unbedingt besser.
Nach der gefühlt vierzigsten Version sind meine Zweifel größer denn je. Kann ich das überhaupt? Soll ich weitermachen oder besser gleich hinschmeißen? Ich bin kurz davor, mich mit einem Honorarverzicht aus der unangenehmen Situation zu befreien, als der Tontechniker uns über die Gegensprechanlage zuflüstert: »Hey, lasst sie diskutieren. Coooool bleiben!«
Seine Stimme ist dabei so eindringlich, dass ich sie nie wieder vergessen habe. Wie die Geschichte weitergeht? Du wirst es kaum glauben! Nach einer elend langen Diskussion zwischen Werbeagentur und Kunden wurde die dritte (!) Aufnahme ausgewählt. Warum nun überhaupt der ganze Wahnsinn? Warum haben die Werbefritzen uns über drei Stunden mit insgesamt 55 Einzelversionen gequält – um dann doch die dritte Sprachaufnahme zu nehmen? Es lag – wie sich später herausstellte – nicht an unserer Leistung, sondern an einem schon länger schwelenden Dissens zwischen Agentur und Auftraggeber.
»Im Zweifel – cool bleiben.« Das ist seither mein Lebensmotto geworden. Denn oft genug kann ich die Rahmenbedingungen eines Ereignisses noch gar nicht ausreichend einschätzen oder ich kenne zentrale Spielstränge noch nicht. Eine übereilte Reaktion wäre dann womöglich genau das Falsche.
Ein paar Monate später konnte ich dieses »Im Zweifel – cool bleiben!« schon brauchen. Ich bekam wie aus heiterem Himmel massive Stimmprobleme und konnte von einem Tag auf den anderen nicht mehr vor einem Mikrofon sprechen. Für einen Radiosprecher eine denkbar ungünstige Situation. Wochenlang hatte ich Schlafstörungen und Schweißausbrüche. Ich konnte vor lauter Angst kaum noch morgens aufstehen und fühlte mich körperlich und seelisch zunehmend am Ende. Gleichzeitig war ich davon überzeugt: Wer in unserer Gesellschaft scheitert, gilt als Verlierer. Ich überlegte sogar, deswegen ins Ausland zu gehen. Doch die Arbeit im Medienbereich lag mir einfach am Herzen.
Mein Stimmproblem war kein organisches, wie sich nach einigen ärztlichen Untersuchungen zeigte. Im Alltag war meine Stimme in Ordnung. Nein, etwas in mir wollte einfach nicht mehr in ein Mikrofon sprechen. Meine Seele stellte mir gewissermaßen ein Bein und »missbrauchte« dafür meine Stimmbänder. Vermutlich brauchte ich genau diese Erfahrung des Scheiterns, der Verzweiflung, der Demut und des Durchhaltens, um zu persönlicher Einkehr zu gelangen und mich selbst neu zu erfinden.
Und so habe ich damals einen Schritt zur Seite gemacht und für eine Weile den Rückwärtsgang eingelegt. Anstelle des dauerhaften und weitgehend selbst gemachten Leistungsdrucks erlaubte ich mir wieder die Leichtigkeit des Anfängers, der Fehler machen durfte. Das gab mir die Freiheit, eine der schöpferischsten Phasen meines Lebens in Angriff zu nehmen. Ich beschloss, alle Kompetenzen zu erwerben, die man als Trainer und Coach braucht. Ich habe mich weiter fortgebildet und mir damit einen völlig neuen Tätigkeitsbereich erschlossen. All das wäre gewiss nicht passiert, wenn meine Stimme mich damals nicht für eine Weile im Stich gelassen hätte. Und so wurde aus einer anfänglich als Katastrophe empfundenen Situation mit der richtigen Haltung eine Chance.
Wenn wir auf wackeligen, unsicheren Boden gestellt werden, kann uns daraus mit der richtigen Haltung eine kluge Erkenntnis erwachsen. Haben wir erst einmal Zutrauen zu diesem Evolutionsprozess gewonnen, begreifen wir, dass wir immer wieder durch Angst und Sorge gehen werden, bis wir uns diesen Gefühlen offensiv stellen. Mit der richtigen Haltung werden aus Tränen Edelsteine. Deswegen möchte ich jene schlimme Zeit nicht missen, auch wenn sie mir zuweilen unerträglich zäh vorkam.
Jeder von uns kann sich jeden Tag neu entscheiden, wie er oder sie mit den Herausforderungen des Lebens umgehen will. Ganz entscheidend ist dabei das Wissen um die Phasen der Veränderung in persönlichen Krisen. Diese Phasen erleben alle Menschen auf