Dank der Chassisnummer konnte Németh die Identität des Fahrers feststellen, denn sehr viele gelbe 360-Modena fuhren in und um Bern nicht umher. Im Weiteren standen dem einst über 200 000 Franken teuren Schlitten ohnehin noch die genauen Untersuchungen durch den Kriminaltechnischen Dienst (KTD) bevor. Die Leute des KTD waren noch in der Nacht samt dem Staatsanwalt zur Stelle, hatten den Fundort hell beleuchtet und grossräumig abgesperrt. Der Ferrari seinerseits war inzwischen mit einem grossen Sichtschutzzelt vor den Augen Neugieriger abgedeckt.
«Wenn es ein gelber 360er-Modena ist – oder sollte man nicht viel eher war sagen? –, dann kann es sich beim Besitzer eigentlich nur um Thomas Kowalski handeln», stellte Josef Németh im Unwissen um die näheren Tatumstände bei der Befragung durch Elias Brunner am frühen Freitagmorgen fest. «Warten Sie schnell, ich hole die Unterlagen», sagte er und verschwand für ungefähr drei Minuten aus dem Blickfeld des Kriminalbeamten.
Bedeuteten drei Minuten Wartezeit bei einer Befragung im Normalfall eine kleine Ewigkeit – bei der man fast versucht war, eine Vermisstenanzeige aufzugeben –, so waren es für den Autofan an diesem Tag gefühlte 30 Sekunden, denn nur zu gerne hätte Brunner sich im Showroom die dort ausgestellten Ferrari und Maserati länger angesehen. Und im Übrigen musste er schmunzeln wegen der Bemerkung «Warten Sie schnell», denn wie sollte das in der Praxis gehen, schnell … warten? Aber diese Frage hatte vor langer Zeit schon einmal ein Berner Kabarettist italienischer Abstammung öffentlich gestellt.
Németh konnte seine Vermutung anhand der mitgebrachten Papiere bestätigen. Beim Käufer handelte es sich tatsächlich um Thomas Kowalski. Dieser Name war Brunner nicht unbekannt. Kowalski hatte seine beste Zeit als Milieu-König von Bern zwar längst hinter sich, aber «TomCat», wie er im Milieu noch immer genannt wurde – in Anlehnung an das Kampfflugzeug der US-Navy «F-14 Tomcat» –, war noch immer eine graue Eminenz in der Bundesstadt, wobei niemand so genau wusste, womit er seinen Lebenswandel heute finanzierte.
Tatsache war, dass nicht nur in Bern einigen Nachtklubs das Wasser bis zum Hals stand, weil immer weniger Herren bereit waren, sich für eine bis zu 1 000 Franken teure Champagnerflasche von nur vordergründig trinkwilligen Damen anmachen und im Séparée mit Fingerspitzengefühl zwischen den Beinen aufgeilen zu lassen. Auch diese Branche war eines der vielen Opfer des Internets geworden, weil Kontakte zu Escortservices und offen deklarierten Prostituierten längst direkt stattfanden, ohne sogenannte Vermittlungsgebühren durch Zuhälter.
«Thomas Kowalski hat den gelben Ferrari 360 Modena am 8. November im vorletzten Jahr gekauft, aus erster Hand.»
«Aus erster Hand, was heisst das?», wollte Brunner wissen.
Németh schmunzelte.
«Nun, bei einem VW Golf würden wir davon reden, dass es eine Occasion war, bei unseren Marken aber spricht man von ‹aus erster Hand›, nicht einmal ‹second hand› wird einem Ferrari oder einem Maserati gerecht.»
«Und wer war demzufolge, nun, wie sagt man, der Neuwagenbesitzer?»
«Ein Industrieller aus der Ostschweiz, der den 360er für seine Freundin gekauft hatte. Als die Beziehung nach einigen heftigen Streitereien, so erzählte er mir, zerbrach, wollte der Mann den Ferrari so schnell als möglich loswerden.»
«Ein Ostschweizer, der nach Hinterkappelen fährt, um seinen Wagen verkaufen zu lassen? Ist das nicht ein bisschen merkwürdig?»
«Wissen Sie, Herr Brunner, Diskretion ist das Nonplusultra in unserer Branche, deshalb werde ich Ihnen den Namen des Verkäufers auch nicht nennen, weil wohl völlig irrelevant.»
Womit Németh im Grunde genommen recht hatte, es aber ausser Acht liess, dass man den vorherigen Halter beim Strassenverkehrsamt in Erfahrung hätte bringen können. Nach diesen Worten verabschiedete man sich.
Unklar blieb bis dato die Identität der zweiten Person, wodurch die Spekulationen bei den Journalisten bereits am Freitagnachmittag via Online-Newsportale ins Kraut zu schiessen begannen («Abrechnung im Milieu oder Beziehungsdelikt?»), weil es sich beim Opfer auf dem Beifahrersitz um eine Frau handelte und der Name des Toten auf dem Fahrersitz bereits durchgesickert war. Die Todesumstände beider Opfer indes blieben im Unklaren. Der Fahrer wurde durch einen vermutlich aufgesetzten Schuss auf Herzhöhe umgebracht, das Fenster auf seiner Seite war offen. Die weibliche Leiche wiederum, und einzig dies stand bis zum Montag, 5. Mai, nach Ermittlungen im IRM fest, hatte keinen Rauch in der Lunge. Die Frau starb offensichtlich an den Folgen eines Schlages auf den Hinterkopf. An weiteren Erkenntnissen arbeitete das IRM noch. «Mit Hochdruck», wie es jeweils hiess.
«Gibt es keine Vermisstenanzeige, die uns weiterbringen könnte?», wollte Ritter von seinem Team wissen.
Kopfschütteln allenthalben.
«Haben wir bereits nähere Informationen, wo der Fahrer den Donnerstag und die Nacht auf den Freitag verbracht, was er gemacht hat?»
«Wir sind weiter im Stadium der Befragungen, allerdings noch ohne konkrete Hinweise, es scheint eine Mauer des Schweigens zu geben», stellte Regula Wälchli fest.
«Und weshalb das?», fragte Ritter leicht gereizt nach.
Eine Art Schützenhilfe für seine Kollegin kam von Stephan Moser: «Kowalski scheint ein Einzelgänger gewesen zu sein, zumindest in letzter Zeit, nicht einmal von einer möglichen Freundin oder Begleiterin wollten die bisher Befragten etwas wissen.»
«Haben die Leute Angst vor möglichen Aussagen?», fragte Ritter und dachte unvermittelt daran, dass, wer in Sizilien gegen die örtliche Mafia aussagt, selten das Pensionsalter erreicht: «Gibt es eine Art bernische Omertà?»
«Nein, das glaube ich nicht, ich hatte jedenfalls nicht das Gefühl. Du etwa, Regula?»
«Nein, auch nicht. Oops! J.R., es ist gleich 09:45 Uhr.»
Was nichts anderes hiess, als dass die Staatsanwaltschaft im Amthaus an der Hodlerstrasse 7 – vom Ringhof aus bequem in zehn Minuten zu Fuss erreichbar – um 10:00 Uhr Neuigkeiten zum Fall erwartete, die es jedoch nicht gab. Max Knüsel war ein Staatsanwalt der alten Schule, so, wie man sich einen Staatsanwalt vorstellt: Mitte 50, unauffällig gekleidet, eine Art kleiner Machiavelli, seiner Macht bewusst. Von ihm hiess es, er habe einen rabenschwarzen Humor, den er aber im beruflichen Alltag nicht allzu oft aufblitzen liess.
Joseph Ritter war froh, dass die Sitzung beim Staatsanwalt bereits um 10:50 Uhr zu Ende war, denn um 11:15 Uhr begann in der Klubschule an der Marktgasse der von einer halbstündigen Mittagspause unterbrochene zweistündige Kurs «Redetraining und Rhetorik», zu dem er und drei weitere Dezernatsleiter vom Kommandanten der Kantonspolizei angemeldet worden war, weil man den Medienvertretern gegenüber nicht selbstsicher genug auftreten konnte, denn von Zeit zu Zeit musste auch Joseph Ritter als Spezialist vor die Journalistinnen und Journalisten treten, wobei das normale Tagesgeschäft professionell von den Mitarbeitenden der Medienstelle der Kapo Bern erledigt wurde.
Punkt 11:00 Uhr trafen sich Beat Lüthi, Thomas Jenni und Mario Egli mit Joseph seph Ritter wie abgemacht vor der Haupttüre des Amthauses. Auf dem Fussweg in die Innenstadt – am immer noch umstrittenen Brunnen von Meret Oppenheim vor dem Polizeikommando am Waisenhausplatz vorbei – drehte sich das Gespräch logischerweise rund um den «Todena», wie Lüthi den Ferrari Modena bezeichnete, den zur Todesfalle gewordenen Sportwagen.
«Muesch itz nid o no aafa, mit däm ‹Todena›, Beätu!»4
«Habt ihr noch keine verwertbaren Aussagen, auch rund um TomCat Kowalski nicht?», wollte Jenni wissen.
«Bis jetzt nicht, nein, aber wir arbeiten daran.» Zum Glück liess sich keiner seiner drei Kollegen zu einem «Sicher mit Hochdruck» verleiten.
1 Gedränge.
2 Grosse Frühlings-Publikumsmesse in Bern.
3 IRM ist die Abkürzung für das Institut für Rechtsmedizin an der Bühlstrasse im Berner Länggassquartier
4 Jetzt musst du aber nicht auch noch mit dem «Todena» beginnen, Beat!
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