Im Volksmund hiess das Gebäude noch immer «Polizeikaserne», zurückzuführen auf die Zeit, als Stadt- und Kantonspolizei bis vor wenigen Jahren getrennte Bereiche waren. Auf dem Weg dorthin kaufte sich Ritter wie üblich bei einem Take-away linkerhand seinen Becher mit einem heissen Kakaogetränk, lief am Restaurant Sous-Sol und der Bäckerei Eichenberger vorbei, anschliessend stieg er die Treppe zur Neuengasse hinauf, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, die Rolltreppe rechts von ihm unbeachtet lassend. Der Bahnhofplatz, am Ende der Treppen liegend, teilte die Welt in zwei Zonen: Links Burger King, rechts Gübelin mit einer Schmuck- und Uhrenauslage, die sich auch an der Park Avenue in New York gut machen würde.
Er lief die mit Berner und Schweizer Fahnen beflaggte Neuengasse entlang, wo ein grosser Coop-Sattelschlepper auf der linken Strassenseite das Warenhaus Ryfflihof mit neuer Ware belieferte. Auf halbem Weg bog Ritter nach links ins Ryffligässli ab, angeblich der kürzere Weg zur ehemaligen Polizeikaserne, da die Neuengasse auf ihrer zweiten Hälfte einen ganz leichten Rechtsknick zum Bärenplatz aufweist. Am Ende des Ryffligässlis zweigte er rechts in die Aarbergergasse ein, wo rechterhand unzählige 110-Liter-Abfallsäcke lagen, einige davon aufgeschlitzt, der Inhalt den Boden bedeckend.
Das Prozedere auf dem Kommando war eine kurze Sache, eine Routineangelegenheit: Hier C4-Briefumschlag, da Unterschrift für die Aushändigung. Ritter erwähnte zum Schluss noch die Sauerei in der Aarbergergasse. Anschliessend ging er zu Fuss – bei diesem schönen Wetter – links am Kunstmuseum Bern vorbei, zu einer Sonderausstellung zu Hodler, Segantini und Anker einladend. Gleich gegenüber lag das Amthaus, wo auch die Staatsanwaltschaft zu finden war. Ritter drehte kurz nach der Drogenanlaufstelle an der Hodlerstrasse nach rechts auf die Lorrainebrücke ab, um 800 Meter später den Ringhof – unter anderem die Einsatzzentrale der Kantonspolizei Bern – zu erreichen.
Mit einem inzwischen leeren Pappbecher, den er beim Eingang in einen Abfallbehälter entsorgte, betrat Ritter das Gebäude. «J.R., guete Tag», dieser Morgengruss wiederholte sich vom Eingang bis zu seinem Büro im ersten Stock einige Male. Joseph Ritter war bei seinen Kolleginnen und Kollegen beliebt, nicht zuletzt, weil der 55-Jährige seine zugeteilten Fälle immer pragmatisch anging, ohne übertriebenen Aktivismus.
Sein Büro teilte Ritter mit Stephan Moser, Regula Wälchli und Elias Brunner, mit drei Leuten, mit denen er bereits länger zusammenarbeitete. Der Raum selber war spartanisch eingerichtet, die vier Pulte mit ihren PCs und Telefonstationen standen jeweils zu zweit Kopf an Kopf; Ritter und Wälchli, Moser und Brunner. Ausser den Garderobenschränken und einer grossen mobilen Pinwand mit Stichworten zum jeweils aktuellen Fall – wie im Moment dem ausgebrannten Sportwagen im Bremgartenwald –, gab es im Zimmer bloss noch eine Kaffeemaschine und ein Radio, die beide auf einem kleinen Kühlschrank in der rechten Ecke des Zimmers standen.
«Hopp YB!», rief Stephan Moser nach der Begrüssung zur neuen Woche, ein echter YB-Fan, der hinter seinem Pult an der Wand ein inzwischen stark vergilbtes Poster von Jean-Marie Conz aufgehängt hatte, dem damaligen Captain, wie er 1986 noch im alten Wankdorf-Stadion zum letzten Mal für den Berner Traditionsclub den Meisterpokal in die Höhe stemmte.
«Es geht nicht mehr lange, lieber Steff, da beginnt eine neue Saison mit neuen Hoffnungen – und die stirbt bekanntlich zuletzt», sagte Ritter.
Regula Wälchli und Elias Brunner konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn diese Durchhalteparolen jährten sich bereits zum x-ten Mal.
Moser war eine Art «Büro-Kalb», immer zu einem Spässchen oder zu einem Bonmot aufgelegt. Er war ungefähr 180 cm gross, sportlich-schlank und lebte seit Längerem in einer festen Beziehung in Hinterkappelen bei Bern mit der Spanierin Dolores zusammen, einer ausgesprochen sportlichen und attraktiven Erscheinung. Trotz seiner erst 36 Altersjahre hatte Moser bereits eine Halbglatze, weshalb er seine Haare bei seinem Coiffeur jeweils extrem kurz schneiden liess, fast typisch für einen Kriminalisten. Bei der Kantonspolizei Bern war er seit seiner Ausbildung.
«Gutes Wochenende gehabt?», fragte Ritter in die Runde, wobei die Frage unisono bejaht wurde, sah man vom Standpunkt aus gelbschwarzer Sicht ab, den Klubfarben von YB.
«Ich habe dich gestern aus der Ferne an der BEA2 gesehen, im Gespräch mit Stadtpräsident Alexander Tschäppät. Gehörst du eigentlich zur Cervelatprominenz?», wollte Regula Wälchli vom Chef wissen. Wälchli arbeitete, nach der Polizeischule 2006 und nach einigen Jahren bei der mobilen und stationierten Polizei – letztere waren die eigentlichen Generalisten im Polizeikorps –, seit zwei Jahren beim Dezernat «Leib und Leben». Sie erhielt nur ein kurzes Kopfschütteln als Antwort, man konnte dieses im weitesten Sinne durchaus als verständnislos bezeichnen.
Dieses Poster von YB-Captain Jean-Marie Conz 1986 bei der Übergabe des Meisterbechers hing hinter dem Arbeitsplatz von Stephan Moser an der Wand.
«Wieso sind die Papierkörbe nicht geleert worden?», wollte der Chef wissen. Wälchli hob die rechte Hand, mit ausgestrecktem Zeigefinger nach oben: «Sparmassnahmen, das Putzpersonal kommt bloss noch Dienstag und Donnerstag.» Elias Brunner setzte noch einen drauf: «Der Kommandant meinte, wir könnten das notfalls selber machen.»
«Klar doch, ganz sicher», entgegnete Ritter leicht echauffiert. «Wir könnten ja aber auch gleich alle vertraulichen Papiere jeden Abend einfach aufs Trottoir stellen, damit jeweils ein Journalist das alles abholen und sichten kann. Montag ‹Berner Zeitung BZ›, Dienstag ‹Der Bund›, Mittwoch ‹Blick am Abend›, Donnerstag ‹20 Minuten›, Freitag das Regionaljournal von SRF 1 und am Samstag der ‹SonntagsBlick›.»
Er hängte seine rot-schwarze Jack-Wolfskin-Jacke über die Stuhllehne und überflog rasch die Anordnung der Unterlagen auf dem Pult, um festzustellen, ob sich seit Sonntagmittag etwas verändert hatte, bevor er zur BEA aufgebrochen war. Das schien nicht der Fall zu sein.
«Gits öppis Nöis?», wollte J.R. wissen, wobei das Team genau wusste, worauf sich diese Frage bezog.
«Nein, so wie es scheint, nicht», meinte Wälchli, «auch das IRM3 tut sich mit den verlangten Ergebnissen schwer.»
Dabei stand die Journaille wie Bluthunde vor der Eingangstüre, denn die «Gruppe Ritter» war seit Freitag samt Wochenendarbeit daran, einen Aufsehen erregenden Fall zu untersuchen, der eben nicht nur von den Berner Medien – das Berner Medienhaus der Espace-Media-Gruppe lag nur unweit des Ringhofs entfernt – hautnah verfolgt und mit Spekulationen angereichert wurde.
Fakt war: In der Nacht auf Freitag, 2. Mai, hatte Franz Gottschling aus Paderborn (D) um 00:33 Uhr der Polizei per Handy gemeldet, dass beim Glasbrunnen ein Auto brenne. Er war mit dem Velo auf der ehemaligen Formel-1-Rennstrecke im Bremgartenwald im Norden Berns in Richtung Eymatt am Wohlensee unterwegs. Im TCS-Camping hatte er einen Wohnwagen stehen, verbrachte dort fast immer seine Ferien. Um 00:34 Uhr wurde die Berufsfeuerwehr der Stadt Bern alarmiert. Und tatsächlich: Direkt oberhalb des Glasbrunnens – in dessen Wasser gewisse Bernerinnen und Berner noch immer eine übernatürliche Kraftquelle vermuteten – brannte ein Sportwagen. Trotz sofortigem Einsatz mit Löschschaum konnte die Feuerwehr, die dank ihres Stützpunktes am Rand des Bremgartenwalds bereits vier Minuten nach dem Alarm eintraf, das vollständige Ausbrennen des Autos nicht mehr verhindern. Es handelte sich bei der Brandruine ohne Kontrollschilder um einen Ferrari 360 Modena, den ein Boulevard-Journalist sogleich und mit denkbar wenig Taktgefühl in «Todena» umgetauft hatte. Dass es sich um einen 360er-Ferrari gehandelt hatte, war bei diesem Wrack selbst für Autofans nicht sofort erkennbar, man hätte das Chassis auf den ersten Blick mit dem Vorgängermodell Ferrari 355 oder einem heutigen Jaguar XKR verwechseln können.
Die Ferrari- und Maserati-Garage in Hinterkappelen.
Im Innenraum des ursprünglich gelben Sportwagens befanden sich zwei bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leichen, wobei es sich beim Toten auf dem Fahrersitz um den Halter des Autos handelte. Diese Klärung war dem IRM noch im Laufe des Freitagnachmittags aufgrund auswertbarer DNA-Spuren im Hause des Opfers relativ schnell gelungen.