Diese Ansichten konnten nur begrenzt empirisch untermauert werden.27 Zwar berichten manche Menschen, wie zum Beispiel Baars, dass sie ständig damit beschäftigt sind, andere beschreiben deutlich weniger aktive innere Stimmen. In einer Studie mit Teilnehmern, die behaupteten, in einem Kernspintomografen einige Minuten gar nichts zu tun (im sogenannten »Ruhezustand«), fanden die Forscher heraus, dass über 90 Prozent der Probanden in dieser Zeit eine gewisse innere Sprache hörten, aber dass dies nur bei 17 Prozent die dominante Denkweise war.28
Abseits des Hirnscanners belegt Russ Hurlburts DES-Methode, dass die Momente des Piepstons bei manchen Menschen ein hohes Maß an innerer Sprache enthalten (im Fall eines DES-Teilnehmers sogar 94 Prozent), während bei anderen gar keine enthalten ist. Nach Berechnungen des Durchschnitts aus zwei Studien fanden Hurlburt und seine Kollegen heraus, dass bei etwa 23 Prozent der Piepston-Momente innere Sprache vorhanden war, eine Zahl, die die beträchtlichen Unterschiede zwischen den Teilnehmern verschleiert.
Wie wir sehen werden, gibt es Anlass, solchen Zahlen gegenüber skeptisch zu sein. Nicht nur, weil sie im Grunde auf Introspektion basieren, die sich auf verschiedene Weise als problematisch erwiesen hat, sondern vor allem deshalb, weil die Befragung einer Testperson, wie viel innere Sprache sie feststellt, von ihr erfordert, dass sie an einen speziellen Zeitpunkt zurückdenken muss, was zur Folge hat, dass auch die Schwächen der Erinnerung ins Spiel kommen. Selbst die DES-Methode mit ihren sorgfältig hervorgelockten Momentaufnahmen des inneren Erlebens unterliegt den Tücken der Erinnerung. Außerdem müssen wir die gewaltigen Unterschiede im Wortreichtum der menschlichen Gedanken berücksichtigen.29 Manche Menschen verwenden überhaupt keine innere Sprache, und jede Theorie über deren Funktion muss die Tatsache berücksichtigen, dass sich im Kopf mancher Menschen gar keine innere Sprache abspielt.
Untersuchungen belegen jedoch, dass die innere Sprache ein signifikanter Bestandteil unseres geistigen Lebens ist. Ein Viertel bis zu einem Fünftel unserer wachen Momente sind eine Menge der wachen Momente, das heißt: jede Menge Selbstgespräche. Was macht all diese Sprache in unserem Kopf? Die Frage, wann und wie die Menschen in diesen inneren Redefluss eintauchen, könnte zur Klärung beitragen, welchen Nutzen wir daraus ziehen, unsere Gedanken in Worte zu fassen.
Michael spricht im Stillen mit sich selbst. Sein Beruf ist mit viel Warterei verbunden, unterbrochen von Augenblicken höchster Konzentration. Seine Tätigkeit erfordert eine nahezu übernatürliche Fähigkeit, Gedanken und Handeln in freiwillig gewählten Momenten zu kombinieren, die so kurz sind wie die Kniereflexe eines normalen Menschen. Michael ist Profi-Kricketspieler, und während er darauf wartet, dass ein Ball geworfen wird, führt er Selbstgespräche.30
»Ich gehe davon aus, dass ich nicht laut rede«, erzählt er mir, als ich ihn eines Tages nach dem Training im Bezirksstadion treffe. »Aber in meinem Kopf gebe ich Befehle, dass sich mein hinterer Fuß ein klein wenig bewegt, und ich schiebe ihn nur ein bisschen zur Seite. Und dann versuche ich, mir zu sagen: Okay, pass auf den Ball auf, fast so, als ob ich alle Gedanken, die damit verbunden sind, auslöschen wollte.«
Schon lange wurde beobachtet, dass diese Art von Selbstgespräch ein wichtiger Bestandteil von sportlichen Leistungen ist. In einer klassischen Studie aus dem Jahr 1974 lenkte der Sportpädagoge und Schriftsteller W. Timothy Gallwey die Aufmerksamkeit seiner Leser auf ein Szenario, das seiner Meinung nach auf jedem Tennisplatz zu beobachten ist: Die meisten Spieler reden auf dem Platz unentwegt mit sich selbst. »Streck dich nach dem Ball.« – »Ziele auf seine Rückhand.« – »Behalte den Ball im Auge.« – »Beuge deine Knie.« Die Befehle nehmen kein Ende. Für manche ist es, als würden sie im Kopf eine Tonbandaufnahme ihrer letzten Trainingsstunde hören. Dann, nach dem Schlag, geht dem Spieler ein anderer Gedanke durch den Kopf, der etwa wie folgt lauten könnte: »Du ungeschickter Ochse, deine Großmutter könnte besser spielen!«31
Obwohl das sowohl für die Ochsen als auch die Großmütter harsch klingen mag, Gallwey analysierte diese übliche Art der Selbstgespräche hinsichtlich einer Beziehung zwischen zwei Wesen, nämlich dem »Sprecher« und dem »Macher«. Man spricht, und der Körper hört zu. Gallweys Beobachtung bringt eine Unterscheidung zur Sprache, die in jeder Diskussion darüber, weshalb wir Selbstgespräche führen, aufs Tapet kommt: eine Trennung zwischen mir als Sprecher und mir als Zuhörer. Wenn wir wirklich zu uns selbst sprechen, dann muss die dabei verwendete Sprache einige der Eigenschaften eines Gesprächs zwischen verschiedenen Teilen unseres Wesens besitzen.
Das ist eine Idee, deren Ursprung im westlichen Denken mindestens bis Platon zurückreicht. »Ich meine die Rede, die die Seele bei jeder Erwägung mit sich selbst führt«, schrieb er im Theaitetos. »Eine Rede, welche die Seele bei sich selbst durchgeht über dasjenige, was sie erforschen will. Freilich nur als ein Nichtwissender kann ich es dir beschreiben. Denn so stellt es sich mir dar, dass, solange sie denkt, sie nichts anderes tut, als sich unterreden, indem sie sich selbst antwortet, bejaht und verneint.«32 Für William James, der seine Schriften Ende des 19. Jahrhunderts verfasste, war das Hören eines sprachlichen Gedankens während seines Auftauchens ein wesentlicher Bestandteil, um in der Lage zu sein, »seine Bedeutung zu fühlen, während er vorbeizieht«33. Das Selbst spricht, und das Selbst lauscht und versteht dadurch, was gedacht wird.
Der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce, der etwa zur gleichen Zeit schrieb wie James, verstand das Denken als Dialog zwischen zwei verschiedenen Aspekten des Selbst,34 einschließlich des kritischen Selbst beziehungsweise Ichs, das das präsente Selbst beziehungsweise Mich fragt, was es denn gerade macht.
Für den Philosophen und Psychologen George Herbert Mead beinhaltet das Denken eine Konversation zwischen einem gesellschaftlich konstruierten Selbst und einem verinnerlichten Anderen,35 einem abstrakten inneren Gesprächspartner, der verschiedene Haltungen gegenüber dem, was das Selbst tut, einnehmen kann.
Der Spieler, der auf dem Tennisplatz Selbstgespräche führt, inszeniert etwas, was allen diesen verschiedenen Ansichten über das Denken gemein ist. Der Gedanke, der einen als »ungeschickten Ochsen« bezeichnet, stammt von einem Teil des Selbst, der eine kritische Distanz zu dem, was getan wird, einnehmen kann. Wenn man mit sich selbst spricht, tritt man für einen Augenblick aus sich selbst heraus und nimmt eine Perspektive gegenüber dem ein, was man gerade tut. Beim Sport können die Selbstgespräche laut oder stumm erfolgen.
Bei Gallweys Berichten vom Tennisplatz fallen zwei Arten von Selbstgesprächen auf. Die eine scheint eine kognitive Funktion zu besitzen: Ermahnungen an sich selbst, den Ball im Auge zu behalten und auf die Rückhand des Gegners zu zielen – Aufforderungen, in denen es um den Gebrauch von Wörtern zu gehen scheint, um das eigene Handeln zu regulieren. Die zweite Funktion ist motivierend, typisch für Spieler, die sich nach einem schlechten Schlag rüffeln. »Das war Mist«, würden wir sie vielleicht sagen hören. »Reiß dich zusammen.«
Beide Arten von Selbstgesprächen scheinen beim Sport wichtig zu sein. In einem Interview behauptete der Wimbledon-Gewinner Andy Murray 2013, dass er nie laut mit sich selbst reden würde, weder auf dem Platz noch außerhalb. Doch das änderte sich, nachdem er in einem Finale in Flushing Meadows eine Zwei-Satz-Führung gegen Novak Djokovic, der damaligen Nummer eins, aus den Händen gab. Murray unterbrach das Spiel für eine Toilettenpause und feuerte sich vor dem Spiegel an.
»Ich wusste, dass ich das, was sich innerlich abspielt, verändern musste«, erzählte er der Londoner Times.36»Deshalb habe ich angefangen zu reden. Und zwar laut. ›Du verlierst dieses Spiel