Flavell interpretiert diese Ergebnisse bei Dreijährigen als Hinweis auf ein fehlendes Bewusstsein ihres eigenen Bewusstseinsstroms: Sie können sich noch nicht gut genug selbst beobachten, um in der Lage zu sein, von dem inneren Stimmengewirr berichten zu können. Doch eine alternative Erklärung lautet, dass kleine Kinder einfach noch keinen Bewusstseinsstrom haben. Genauer gesagt, dass sie die äußere Sprache noch nicht verinnerlicht und die innere Sprache noch nicht gebildet haben. Sie denken nicht in Wörtern, deshalb schlussfolgern sie, wenn sie aufgefordert werden, über das innere Erleben einer Person nachzudenken, die mit keiner Aktivität beschäftigt ist, dass sich in deren Kopf gar nichts abspielt.
Bei anderen Untersuchungen fragte Flavell speziell nach der inneren Sprache. In einer Studie ging es darum, dass Kinder im Alter zwischen vier und sieben Jahren einen Erwachsenen beobachteten, der eine Aufgabe erfüllte, bei der man erwarten würde, dass innere Sprache benötigt wird: Zum Beispiel, wenn man sich an Artikel zu erinnern versucht, die man vergessen hat, auf die Einkaufsliste zu setzen. Dem Kind wurden Fragen gestellt, wie zum Beispiel: »Denkt sie nur in ihrem Kopf, oder sagt sie sich im Kopf auch Dinge zu sich selbst?« Die Sechs- und Siebenjährigen erkannten, dass innere Sprache wahrscheinlich im Spiel war, doch bei den Vierjährigen war das deutlich weniger der Fall.
Bei einem zweiten Experiment wurde Kindern eine Aufgabe gestellt, die speziell ausgedacht worden war, um innere Sprache hervorzurufen, wie zum Beispiel still darüber nachzudenken, wie der eigene Name klingt. 40 Prozent der Vierjährigen und 55 Prozent der Fünfjährigen räumten ein, innere Sprache anstelle einer visuellen Methode genutzt zu haben, um die Antwort zu finden. Diese Zahlen waren signifikant niedriger als entsprechende Ergebnisse bei Erwachsenen.
Doch diese Resultate zeichnen noch kein klares Bild, ob das Problem der Kinder darin bestand, über ihr eigenes inneres Erleben nachzudenken, oder ob Kindern dieses Alters einfach die spontane innere Sprache fehlt. Die Antwort ist wahrscheinlich, dass es sich um beides handelt. Wenn es denn stimmt, dass Kindern die innere Sprache fehlt, dann sind die Auswirkungen weitreichend. Niemand sollte daraus schlussfolgern, dass Kinder nicht denken, aber ihnen scheint eine Denkweise zu fehlen, die das Bewusstsein vieler Erwachsenen beherrscht. Das ist nur einer von mehreren Gründen, weshalb man davon ausgehen kann, dass sich im Kopf eines Kleinkindes Seltsames abspielt.63
Das Kind denkt also nicht sprachlich, vielmehr verwandelt es seine vorhandenen intellektuellen Fähigkeiten, bevor die Sprache ins Spiel kommt. Wygotski, der zweifelsohne vom intellektuellen Eifer der entstehenden Sowjetunion beeinflusst war, beschrieb dies als »Entwicklungsrevolution«. In dem 2005 erschienen Roman von Edward St Aubyn Muttermilch trauert der fünf Jahre alte Robert der Zeit vor dieser Revolution nach. Als er seinen kleinen Bruder, Thomas, in seiner glückseligen Weltlosigkeit beobachtet, erinnert er sich an die Phase, bevor sein Kopf voller Wörter war: »Er war so sehr damit beschäftigt gewesen, Sätze zu bilden, dass er die barbarischen Tage beinahe vergessen hatte, in denen das Denken wie ein Farbspritzer gewesen war, der auf einem Blatt Papier landete.«64 Selbst im zarten Alter von fünf Jahren wurde Roberts Denken durch Wörter gänzlich verändert. »Wenn er zurückblickte, konnte er es noch immer sehen: Er hatte in einem Zustand gelebt, der ihm nun wie ein Stillstand erscheinen würde – wie wenn man den Vorhang zurückzieht und sieht, dass alles mit Schnee bedeckt ist, und man kurz innehält, bevor man ausatmet. Er konnte das alles nicht zurückerlangen, aber vielleicht würde er nun doch nicht so bald hinunterrennen. Vielleicht würde er sich für eine Weile setzen und die Aussicht betrachten.«
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