Wie ich bereits erwähnt habe, ist das offene und neugierige Aufmerksamsein gemeinhin als „Achtsamkeit“ bekannt. Wenn jemand sich achtsam mit uns verbindet, fühlen wir uns wichtig, umsorgt, geehrt, gewürdigt, respektiert oder geschätzt. Wenn aber jemand die Verbindung unterbricht und sich von uns distanziert, wenn diese Person in sich gekehrt ist, kalt oder verschlossen; wenn sie so in ihren eigenen Gedanken und Gefühlen verfangen ist, dass sie kein Interesse an uns hat; wenn sie in unserer Gegenwart gelangweilt, gereizt oder abgelenkt zu sein scheint; wenn sie uns wie eine Belästigung, eine Störung oder ein Ärgernis behandelt statt wie ein wertvolles menschliches Wesen, dann fühlt sich das nicht besonders gut an, stimmt’s?
Wenn ein Partner auf Distanz geht und abschaltet, rächt sich der andere leider häufig, indem er dasselbe tut, wodurch schon bald eine teuflische Abwärtsspirale in Gang gesetzt ist. Je mehr Sie sich von Ihrem Partner distanzieren (oder andersherum), umso mehr wird die Intimität und Wärme aus Ihrer Beziehung schwinden, bis letztendlich ein weiter, leerer Raum zwischen Ihnen beiden liegt – ein trockener, trostloser Platz, an dem das Leben nicht gedeihen kann.
Automatisches Reagieren
Bob spielt mit seinem dreijährigen Sohn Daniel „Flugzeug“. Daniel lacht vor Freude, als Bob ihn an einem Arm und einem Bein herumwirbelt und laute Uhh-uhh-uhh-Geräusche macht. Es ist alles ein großes Vergnügen, bis zu dem schrecklichen Augenblick, als Bob den Jungen fallen lässt.
Daniel trifft mit einem dumpfen, dröhnenden Schlag auf dem Boden auf. Es folgt ein kurzer Moment bestürzter Stille, dann verzieht er das Gesicht und beginnt fürchterlich zu heulen. Hektisch und mit rotem Kopf stürzt Bobs Ehefrau Sarah herbei. „Du bist so verantwortungslos!“, fährt sie Bob an. Schnell nimmt sie Daniel in die Arme und sagt: „Es ist alles gut. Dir ist nichts passiert. Was hat Papa mit dir gemacht?“ Während sie Daniels Rücken streichelt, wirft sie Bob einen wütenden Blick zu.
Bob ist fuchsteufelswild. Seiner Meinung nach ist Sarahs Reaktion vollkommen ungerecht. Er schnauzt zurück: „Du bist so ein Biest!“ und stürmt aus dem Zimmer.
Bobs und Sarahs Handlungen sind beide ein gutes Beispiel für automatisches Reagieren. Statt auf die Situation mit Gewahrsein, Offenheit und Selbstbeherrschung zu reagieren, laufen beide Partner auf Autopilot. Befinden wir uns im automatischen Modus, werden wir von unseren Gedanken und Gefühlen wie eine Marionette herumgezerrt; wir verfügen über wenig oder gar kein Selbstgewahrsein und haben wenig oder gar keine bewusste Kontrolle über unser Verhalten. Wenn der Automatismus uns im Griff hat, handeln wir impulsiv, achtlos, eben automatisch: Es ist so, als würden wir blind von unseren Emotionen angetrieben und trügen Scheuklappen, die uns nichts anderes sehen lassen als unsere eigenen Überzeugungen und Urteile. Je automatischer Sie als Partner reagieren, umso wahrscheinlicher handeln Sie auf schädigende Weise, die Ihre Beziehung eher zum Ersticken bringt, als ihr Leben einzuhauchen.
Vermeidung
„Wer sich gerne schlecht fühlt, hebe bitte die Hand!“, forderte ich das Publikum auf. Da saßen mehr als sechshundert Menschen, und nicht eine einzige Hand ging nach oben. Nicht verwunderlich. Menschen mögen keine unangenehmen Gefühle, und wir geben uns alle große Mühe, sie zu vermeiden. Das ist ganz natürlich, aber es schafft auch Probleme. Je mehr wir darauf bedacht sind, im Leben unangenehme Gefühle zu vermeiden, umso mehr geht es mit unserem Leben bergab. Diese Behauptung wird durch eine Fülle wissenschaftlicher Erkenntnisse gestützt. Ein höherer Grad an Erlebnisvermeidung – dies ist der Fachbegriff für den Versuch, unangenehme Gefühle zu vermeiden oder loszuwerden – steht in direktem Zusammenhang mit einem erhöhten Risiko für Depression, Angst, Stress, Abhängigkeit und eine Vielzahl weiterer Gesundheitsprobleme (Hayes et al. 1996).
Warum ist das so? Nun, es liegt hauptsächlich an den Strategien, die wir üblicherweise zum Vermeiden anwenden – Strategien wie die, dass wir Suchtmittel konsumieren, uns ablenken oder uns in unsere Komfortzone zurückziehen. Schauen wir uns diese Strategien jetzt schnell einmal an.
Suchtmittel konsumieren. Menschen sind Experten im Vollstopfen ihres Körpers mit Drogen oder Genussmitteln, um sich gut zu fühlen: mit Schokolade, Pizza, Bier, Wein, Zigaretten, Marihuana, Heroin, Valium, Ecstasy, Pommes Frites und Eiscreme, um nur einige zu nennen. Während diese Substanzen uns oft kurzfristig helfen, unangenehme Gefühle zu vermeiden, wirken sie sich, wenn wir uns zu sehr auf sie verlassen, langfristig verheerend auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden aus.
Sich ablenken. Wenn wir uns schlecht fühlen, versuchen wir häufig, „nicht mehr daran zu denken“. Wir versuchen uns mit allem und jedem abzulenken: mit Fernsehen, mit Computern oder mit Kreuzworträtseln, indem wir wild feiern, uns in Arbeit vergraben oder spazieren gehen. Zwar hilft Ablenkung uns kurzfristig, unangenehme Gefühle zu vermeiden, doch schadet sie oft unserer Lebensqualität. Warum? Erstens wegen der verschwendeten Zeit. Wie viel Zeit Ihres Lebens haben Sie damit vergeudet, fernzusehen, im Internet zu surfen oder Schundblätter zu lesen, um auf diese Weise Langeweile, Angst oder Einsamkeit zu vermeiden? Stellen Sie sich vor, Sie hätten diese Zeit in Dinge investiert, die für Sie wirklich wichtig und bedeutsam waren. Zweitens, weil wir nicht effektiv handeln, um langfristig unsere Lebensqualität zu verbessern, solange wir uns mit Ablenkungen beschäftigen. Dies ist in Beziehungen nur allzu üblich. Statt an der Verbesserung unserer Interaktion mit unserem Partner zu arbeiten, bemühen wir uns darum, uns gut zu fühlen.
Sich in die Komfortzone zurückziehen. Herausfordernde Situationen lassen unangenehme Gefühle wie Furcht, Sorge, Wut oder Frustration entstehen. Wollen wir diese Gefühle vermeiden, haben wir unter anderem die Möglichkeit, uns von derartigen Situationen fernzuhalten. Beispielsweise können Sie sich weigern, mit Ihrem Partner zu sprechen. Oder sich weigern, ihm zuzuhören. Oder sich weigern, ein Bett mit ihm zu teilen. Oder Sie können das Zimmer verlassen oder das Gespräch beenden, sobald Sie beginnen, sich zu ärgern oder aufzuregen. Nun hat das Vermeiden von herausfordernden Situationen natürlich bisweilen seine Berechtigung. Wenn zum Beispiel ein Konflikt zu eskalieren beginnt, kann es eine gute Idee sein, eine „Auszeit“ zu nehmen und es Ihnen beiden zu ermöglichen, sich zu beruhigen, bevor Sie mit dem Gespräch fortfahren. Wenn Sie aber regelmäßig vor der Beschäftigung mit den herausfordernden Themen Ihrer Beziehung davonlaufen, werden Sie auf lange Sicht leiden.
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird dieses Verhalten als „Verweilen in der Komfortzone“ bezeichnet. Leider ist die Komfortzone nicht gar so komfortabel. Je mehr Zeit Ihres Lebens Sie in ihr verbringen, umso mehr fühlen Sie sich festgefahren, niedergedrückt und dem Leben unterlegen. Wir sollten sie umbenennen in die „Stagnierzone“ oder die „Das-Lebenhalb-gelebt-Zone“. Wenn Sie möchten, dass Ihre Beziehung wächst und gedeiht, müssen Sie sich voll und ganz in viele herausfordernde Situationen begeben und Raum für die schwierigen Gefühle schaffen, die sie mit sich bringen. Wenn Sie diese Situationen immer vermeiden, ist Ihre Beziehung zur Stagnation verurteilt.
Alles in allem hat die Strategie der Vermeidung also negative Auswirkungen auf Beziehungen. Natürlich nicht, wenn sie maßvoll angewendet wird. Aber je mehr ein oder beide Partner auf Vermeidung setzen, umso mehr Probleme werden wahrscheinlich entstehen.
In-Ihrem-Verstand-Sein
Der Verstand plappert gerne. Er hat viel Nützliches und Wichtiges zu sagen – aber verdammt viel mehr Nutzloses und Unwichtiges. Stellen Sie sich vor, Sie würden einen Schreiber dafür bezahlen, dass er jeden einzelnen Gedanken aufschreibt, der Ihnen in den nächsten vierundzwanzig Stunden durch den Kopf geht: Wie viel davon wäre es wert, noch einmal gelesen zu werden? Falls Ihr Verstand auch nur annähernd so ist wie meiner, ziemlich wenig!
Wenn es um unseren Partner geht, ist unser Verstand normalerweise rasch