Noch etwas anderes in diesem Zusammenhang: Wenn ein Partner spricht, bitte ich den anderen, sehr aufmerksam zuzuhören. Ich sage: „Es fällt schwer, unter diesen Bedingungen zuzuhören, da niemand gerne kritisiert wird. Und wenn Sie so sind wie die meisten Menschen, wollen Sie dazwischenreden und widersprechen oder sich verteidigen oder Ihren Standpunkt vermitteln oder mit Ihren eigenen Beschwerden oder Ihrer eigenen Kritik kontern. Jedoch wissen Sie wahrscheinlich nur allzu gut, dass eine derartige Reaktion nicht sehr effektiv ist, stimmt’s?“ An dieser Stelle antworten die Klienten meistens mit Ja. Und wenn sie sich nicht sicher zu sein scheinen, frage ich: „Was passiert normalerweise, wenn Sie so reagieren?“ Die Antwort lautet dann gewöhnlich ungefähr so: „Wir streiten uns letztendlich einfach noch mehr und kommen nie zu einer Lösung.“
„Aha“, sage ich. „Wie wäre es also, dies als eine Gelegenheit zu sehen, zu lernen, anders auf Ihren Partner zu reagieren: ihm gegenüber wirklich aufmerksam zu sein, mit einer offenen und neugierigen Haltung statt mit einer feindseligen oder gelangweilten?“ Mit anderen Worten fordere ich sie dazu auf, Achtsamkeit zu praktizieren. Achtsames Zuhören und wertfreies Beschreiben tragen beide zur Schaffung eines sicheren Raumes bei, eines Raumes, in dem beide Partner beginnen können, sich zu öffnen und freier über ihre Schwierigkeiten zu sprechen. Und während jeder Partner seine Geschichte erzählt, stelle ich wiederholt Fragen wie diese: „Wie fühlen Sie sich, wenn sie so mit Ihnen spricht?“ oder „Wie ist es für Sie, wenn er das, was er sagt, nicht durchzieht?“ oder „Wie fühlen Sie sich, wenn sie so aus dem Zimmer stürmt?“ Ich tue das, um ihnen zu helfen, zu erkennen, dass sie beide leiden. Zur Veranschaulichung folgt nun ein weiterer Auszug aus dem Protokoll über die Sitzung mit Juan und Claire:
RUSS: | Wie fühlen Sie sich, wenn Juan Sie „Nervensäge“ oder „Hexe“ nennt? |
CLAIRE: | Sehr wütend. |
RUSS: | Sehr wütend? |
CLAIRE: | Ja! Er hat kein Recht, so mit mir zu reden. (Ihr Gesicht läuft rot an, sie hat die Arme verschränkt, ihre Stimme ist laut. Sie wirft Juan einen wuterfüllten Blick zu, und er blickt auf seine Füße hinunter.) |
RUSS: | Ich frage mich nur etwas, Claire; fast immer, wenn jemand sehr wütend oder ärgerlich ist, finden wir, wenn wir ein wenig tiefer graben, gewöhnlich etwas unter dieser Wut. Normalerweise etwas ziemlich Schmerzhaftes. Und ich frage mich, ob Sie sich einfach mal selbst überprüfen und gucken können, ob das wohl bei Ihnen der Fall ist. Vielleicht können Sie einfach ein paar tiefe Atemzüge machen und dabei sozusagen in diese Wut hineinatmen – und schauen, ob es da noch ein anderes Gefühl gibt, das darunter liegt, ein schmerzhafteres Gefühl. |
CLAIRE: | (mit feuchten Augen und zitternder Stimme): Ich habe das Gefühl, dass er mich hasst. |
RUSS: | Und wie ist das? Das Gefühl zu haben, dass die Person, die Sie lieben, Sie hasst? |
CLAIRE: | Es ist schrecklich. |
RUSS: | (an Juan gewandt): Juan, wollen Sie, dass Claire dieses Gefühl hat? |
JUAN: | Auf keinen Fall! (Er schüttelt entschieden den Kopf.) Auf keinen Fall. (Er schluckt heftig, seine Gesichtszüge entspannen sich und seine Augen werden feucht. Er schaut Claire an und spricht sehr sanft, mit brüchiger Stimme.) Natürlich hasse ich dich nicht. Ich liebe dich. |
Was ist hier nun passiert? Claire hat es sich getraut, offen und verwundbar zu sein. Sie hat sich geöffnet und Juan einige ihrer schmerzhaften Gefühle mitgeteilt. Dieses Verhalten unterscheidet sich sehr von ihrer gewöhnlichen Reaktion. Normalerweise zeigt sie Juan lediglich ihr wütendes Äußeres. Im Gegenzug geht er in die Defensive und beginnt zu kritisieren. Das wiederum macht Claire noch wütender, und es entsteht ein Teufelskreis. Wenn Claire sich jedoch öffnet und Juan sehen lässt, wie sehr sie leidet, reagiert er ganz anders. Er empfindet Mitgefühl für sie: Er erkennt, wie sehr sie leidet, und möchte dieses Leiden lindern. Statt sie also herunterzuputzen oder sich zurückzuziehen, geht er auf sie zu, um sie zu trösten.
Gefangen in-Ihrem-Verstand vergessen Sie leicht, dass Ihr Partner ebenfalls leidet. Sie werden von Wut, Groll und Selbstgerechtigkeit festgehakt und von Gedanken wie diesen gefangen genommen: Das ist alles zu schwer. Es sollte einfach nicht so schwierig sein dürfen! Warum lässt er mich nicht in Ruhe? Sie konzentrieren sich so sehr auf das, was an Ihrem Partner nicht stimmt, oder regen sich so sehr darüber auf, wie er Sie behandelt hat, dass Sie vergessen,: er ist ein Mensch mit Gefühlen. Sie vergessen, dass er diese Beziehung aus denselben Gründen eingegangen ist wie Sie: um zu lieben und geliebt zu werden, um zu sorgen und umsorgt zu werden, um sein Leben dadurch, dass er es mit jemandem teilt, zu verbessern und zu bereichern. Keiner von Ihnen ist diese Beziehung eingegangen, weil er kämpfen und streiten und zanken und beschuldigen und urteilen und verletzen und zurückweisen wollte. Wenn Sie also leiden, leidet Ihr Partner garantiert ebenfalls. Und wenn Sie anfangen, zu erkennen, dass Sie beide im selben Boot sitzen, beide aufgrund einer Beziehung leiden, die sich ganz anders entwickelt hat, als Sie es sich gewünscht hätten, ergibt sich eine Möglichkeit, anders zu reagieren: mit Güte und Zuwendung statt mit Groll und Zurückweisung. Und man muss kein Nobelpreisträger sein, um zu wissen, was für Ihre Beziehung gesünder ist. Folgendes können Sie jetzt also tun:
1. Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit, um etwas über die wichtigsten Probleme in Ihrer Beziehung zu schreiben. Seien Sie bemüht, hierbei wertfrei zu beschreiben, statt harte Urteile zu fällen und scharfe Kritik zu üben. Schreiben Sie zum Beispiel: „Greg hilft nicht sehr oft bei der Hausarbeit“ statt „Greg ist ein fauler Dreckskerl“. Am Anfang fällt das schwer, zeigen Sie deshalb Nachsicht mit sich selbst. Und wann immer Sie bemerken, dass Ihnen ungewollt ein hartes Urteil entschlüpft ist, nehmen Sie einfach Notiz davon. Sagen Sie still so etwas zu sich wie: „Aha! Da ist ein Urteil!“ oder „Hier wird beurteilt!“ Streichen Sie es dann durch und schreiben Sie stattdessen etwas Wertfreies.
2. Schreiben Sie über die schmerzhaften Emotionen, die Sie infolge dieser Probleme empfunden haben. Mit welchen schmerzhaften Gedanken und Gefühlen haben Sie gekämpft? Wenn die hauptsächlichen Gefühle, die Sie wahrnehmen, Ärger, Wut, Groll, Zorn oder Frustration sind, schauen Sie, ob Sie „tiefer gehen“ können. Dies sind normalerweise oberflächliche Emotionen. Unter dem verärgerten Äußeren finden Sie gewöhnlich so etwas wie Leiden, Traurigkeit, Schuldgefühl, Scham, Furcht, Zurückweisung, Einsamkeit, Minderwertigkeitsgefühle, Hoffnungslosigkeit – oder das Gefühl, nicht geliebt, nicht gewollt, nicht geschätzt oder vernachlässigt zu werden.
3. Geben Sie offen und ehrlich zu, dass diese Beziehung schon länger schmerzhaft ist. Sie haben gelitten. Es ist nicht leicht gewesen. Sie sind diese Beziehung mit allen möglichen Erwartungen eingegangen, von denen sich viele nicht erfüllt haben. Sie hatten alle möglichen Zukunftsträume, von denen sich viele nicht verwirklicht haben. Sie haben sich alle möglichen Illusionen über Ihren Partner gemacht, und viele davon sind zerstört worden. Angesichts dessen, was Sie durchgemacht haben, ist es vollkommen normal, dass Sie sich so fühlen, wie Sie es tun.
4. Dieser Teil ist die größte Herausforderung: Denken Sie ein paar Minuten lang darüber nach, dass auch Ihr Partner gelitten hat. Vielleicht hat er niemals mit Ihnen darüber gesprochen. Viele Männer sind nicht besonders gut darin, über ihre Gefühle zu reden. (Das liegt nicht an einem biologischen Unterschied, sondern lediglich daran, dass sie in einer Kultur aufwachsen, in der ihnen dies nicht beigebracht wird.) Möglicherweise müssen Sie hier also Ihre Fantasie spielen lassen. Denken Sie darüber nach, wie es für Ihren Partner sein muss, derjenige zu sein, der Ihre Beschwerden und Ihre Kritik einsteckt. Falls er dazu neigt, das Gespräch