Werden wir uns daher der Wichtigkeit des aktuellen Moments bewusst. Während des letzten Jahrzehnts ist Achtsamkeit sehr populär geworden. Achtsamkeitsmeditation wird an den unterschiedlichsten Schauplätzen angeboten – einschließlich buddhistischer Gemeinden, nicht-religiöser Programme und Psychotherapie. Vielfach wird sie als harmlose Methode zur Stressreduktion verkauft. Gleichzeitig sind Traumata sehr verbreitet. Geschätzte 90 Prozent der Bevölkerung sind traumatischen Erlebnissen ausgesetzt, und acht bis 20 Prozent davon werden eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln.2 Das bedeutet, dass, egal in welchem Umfeld Achtsamkeitsmeditation unterrichtet wird, die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand im Raum in der Vergangenheit ein Trauma erlitten hat, hoch ist.
Daher stellt sich die Frage: Wie können wir die potenziellen Gefahren der Achtsamkeitsmeditation für Traumaüberlebende minimieren und gleichzeitig die positiven Möglichkeiten zu ihrem Vorteil nutzen?
Dieses Buch beschäftigt sich mit genau dieser Frage. Ich möchte zeigen, dass eine grundlegende Achtsamkeitspraxis effektiver ist, wenn sie mit einem Verständnis für Trauma gepaart wird. Egal ob es der Meditationslehrer eines etablierten Retreats für Stille-Meditation ist, die Sozialarbeiterin, die Achtsamkeitsinterventionen in ihrer Arbeit nutzt, oder die Lehrerin, die fünfminütige Meditationen in ihrer Grundschulklasse anleitet – ich bin überzeugt, dass alle, die Achtsamkeit als Angebot nutzen, über die Risiken informiert sein sollten, die sie für Menschen birgt, die mit Trauma zu kämpfen haben.
Ich habe dieses Thema während des letzten Jahrzehnts untersucht. Ich habe theoriegeleitete akademische Forschung betrieben, habe ganze Wände mit Zetteln voll abstrakter Ideen vollgeklebt und habe in informellen Interviews Achtsamkeitsausbilder, psychologische Fachkräfte und Traumaüberlebende zu dieser Thematik befragt. Als Psychotherapeut habe ich ebenfalls eng mit Traumaüberlebenden zusammengearbeitet, die unerwünschte Erfahrungen mit Achtsamkeitsmeditation gemacht hatten. Nicht zuletzt bin ich das Thema allerdings als jemand angegangen, der selbst eigene Herausforderungen mit Achtsamkeit und Trauma erlebt hat. Ich wollte verstehen, was mir da widerfahren war.
EIN PERSÖNLICHER WEG
Als ich anfing, Achtsamkeitsmeditation zu praktizieren, arbeitete ich als Psychotherapeut mit männlichen Sexualstraftätern in Vancouver, Kanada. Ich hatte diese Arbeit wegen meines Interesses an Sexualität und opferorientierter Gerechtigkeit aufgenommen. Nach einem Jahr in diesem Beruf fühlte ich mich jedoch ausgebrannt. Ich litt unter starken Stimmungsschwankungen und verfügte nicht über das Handwerkszeug, um damit zurechtzukommen. Als eine Kollegin mir vorschlug, sie zu ihrer örtlichen Achtsamkeitsmeditationsgruppe zu begleiten, war ich leichte Beute: Achtsamkeit genoss einen zunehmend positiven Ruf in der Psychologie, und mir gefiel die Idee, eine bewusstere Beziehung zu meinem Geist aufzubauen. Während ich also dasaß und meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem lenkte, fragte ich mich: Wie schwer kann das schon sein?
Natürlich war es unmöglich. Ich verbrachte meine erste Meditationseinheit komplett in Gedanken versunken und realisierte dies erst, nachdem am Ende der Sitzung die Glocke geläutet hatte. Nichtsdestotrotz fing ich an, diese Praxis zu lieben und erkannte, dass sie mir in vielerlei Hinsicht half. Ich war mir meines Körpers bewusster, weniger an aufwühlende Gedanken gebunden und fühlte mich zufriedener und glücklicher, als ich es je zuvor gewesen war. Ich schuf neue Verbindungen zur Welt und fand Bedeutung und Resilienz außerhalb meiner Arbeit mit Straftätern – zum Beispiel, wenn ich dem Wind im Erdbeerbaum vor meinem Küchenfenster lauschte oder wenn ich meine Füße spürte, wie sie auf dem Weg zur Arbeit den Boden berührten. Wenn ich unter emotionalem Schmerz litt, verhalf mir Achtsamkeit zu neuer Perspektive und Raum. Sie half mir dabei, mir selbst mit neuem Mitgefühl und auf nicht wertende Weise zu begegnen.
Dann, völlig unerwartet, gingen die Lichter aus. Ich befand mich auf einem Stille-Meditationsretreat im ländlichen Massachusetts, als mich das Gefühl überkam, jemand hätte so etwas wie einen Hauptschalter in meinem Körper umgelegt. Ich hatte Schwierigkeiten gehabt, mich auf meine Übungen einzulassen, weil mir eine bestimmte Geschichte sexueller Gewalt aus meiner therapeutischen Arbeit immer und immer wieder durch den Kopf ging. Wenn ich meine Augen in dem schwach beleuchteten Raum öffnete, sah ich, dass alles da war, wo es sein sollte: Mitmeditierende, die neben mir auf ihren Kissen ruhten, die Buddha-Statue auf der Stirnseite des Raumes, und durch das Fenster sah ich die schmale Mondsichel zwischen den Bäumen. Nichts hatte sich gerührt und nichts Äußerliches hatte sich verändert.
Dann aber sah ich mich selbst. Ich schaute von einem der Dachbalken von oben auf meine Schultern herab. Panik ergriff mich, und trotzdem blieb ich so regungslos wie die Statue, auf die ich mich zu konzentrieren versuchte. Ich vertraute darauf, dass diese Erfahrung, wie jede andere, die ich während meiner Meditation gehabt hatte, vorübergehen würde – wenn nicht bis zum Ende der Sitzung, dann doch sicherlich bis zum nächsten Morgen.
Leider war dem nicht so. Zumindest nicht ganz. Während der nächsten Woche des Retreats verwandelte sich die Welt in einen finsteren, unterirdischen Ort. Mir war, als würde ich zwischen zwei Sphären schweben, von denen sich keine auf festem Boden zu befinden schien. Ich war physisch anwesend, jedoch nur oberflächlich. Meine Sinne waren wie gedämpft und stummgeschaltet, mein Appetit verschwand und ich hatte das düstere, durchdringende Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es war, als hätte sich ein wesentlicher Teil von mir dazu entschlossen, aufzustehen und davonzulaufen, ohne jegliche Absicht, je wieder zurückzukommen. An jedem zweiten Tag des Retreats traf ich mich mit einem der Meditationslehrer – und häufig spürte ich, sobald ich mich hinsetzte, Tränen in mir aufsteigen. Jedes Gespräch verließ ich mit ähnlichen Instruktionen: Sei achtsam. Nimm die Ablösung wahr. Gib nicht auf. Vertraue dem Prozess. Und für den Rest des Retreats tat ich genau das.
TRAUMA ENTDECKEN
Als ich in diesem Sommer nach Hause kann, konnte ich in den Gesichtern meiner Freunde und Familie ablesen, was mir bereits klar war: Ich war lädiert vom Retreat zurückgekehrt. Ich fühlte mich desorientiert, innerlich taub und hatte Probleme, mich wieder in meinen Alltag einzugewöhnen. Als ich mit meinen Freunden und Kollegen über meine Erfahrungen sprach, überraschte es mich, dass sie das Wort „Trauma“ gebrauchten – einen Begriff, mit dem ich mich zwar theoretisch beschäftigt hatte, den ich aber nie mit meinem Leben in Verbindung gebracht hatte.
Für mich beschränkte sich diese Bezeichnung auf Handlungen schlimmster Übergriffe und Gewalt. Überfallopfer trugen Traumata in sich. Veteranen mit Kampferfahrung erlebten Traumata. Menschen, die durch Unterdrückungs-Regimes grausame und ungerechte Behandlung erfahren hatten – zum Beispiel in Form von Rassismus oder Behindertenfeindlichkeit –, ertrugen Traumata. Ich hatte ein relativ beschütztes Leben geführt, und meine Erfahrungen als „traumatisch“ zu beschreiben, schien, als würde man die Ungeheuerlichkeit des Schmerzes von Traumaüberlebenden trivialisieren.
Trauma jedoch, wie ich seitdem gelernt habe, beschreibt nicht so sehr den Inhalt einer Erfahrung als vielmehr die Auswirkungen – unerwartet und fortlaufend, – die sie auf unsere Physiologie hat. Die Veteranentraumaspezialistin Pat Ogden schreibt: „Jedes Erlebnis, das genug Stress verursacht, um uns hilflos, verängstigt und überwältigt oder zutiefst unsicher fühlen zu lassen, wird als Trauma angesehen.“ (2015, S. 66) Sei es, dass man Zeuge von Gewalt wird oder diese selbst erfährt, einen geliebten Menschen verliert oder zum Ziel von Unterdrückung* wird, Menschen erleben Trauma auf unterschiedlichste Art und Weise. Und meiner ursprünglichen Annahme entgegengesetzt, minimiert die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen persönlichen Traumas nicht die Wichtigkeit des Traumas einer anderen Person. Vielmehr kann dies sogar Ursprung eines Gesprächs über die sozialen Bedingungen sein, die Traumata in erster Linie aufrechterhalten.3
Durch Freunde ermutigt, fing ich an, einen Traumatherapeuten zu besuchen. Es waren bereits sechs Wochen seit dem Retreat vergangen, und die Last der Erfahrung machte mir noch immer zu schaffen. Ich dissoziierte regelmäßig, hatte wiederkehrende Albträume und entwickelte zum ersten Mal in meinem Leben Schlafstörungen. Nach einigen Sitzungen stelle mein Therapeut die These auf, dass ich möglicherweise stellvertretendes bzw. sekundäres Trauma durch meine Arbeit mit Sexualstraftätern erlebte, weil ich kontinuierlich Geschichten von