Ein Grund, weshalb Weisheit bis vor Kurzem sowohl vonseiten der akademischen Psychologie wie auch von der Psychotherapie so wenig Beachtung gefunden hat, besteht darin, dass sie so ein komplexer Top-down-Prozess ist. Seit ihren Anfängen in den späten Jahren des 19. Jahrhunderts hat sich die akademische Psychologie mehr den elementaren psychischen Prozessen zugewendet wie der Wahrnehmung oder der Konditionierung von Verhalten – Phänomene, die leicht operational definiert werden konnten und mit denen man leicht experimentieren konnte (Birren & Svensson, 2005). Psychotherapeuten sind vielleicht auch deshalb davor zurückgeschreckt, Weisheit zu untersuchen, weil sie der Auffassung waren, dass sie mit mehr Recht als Bereich der Philosophie und der Religion zu sehen ist. Auch moderne Philosophen haben sie ignoriert, zwar festgestellt, dass sie von historischem Interesse ist, aber sich nicht tiefer mit einem Konstrukt befassen wollen, das so vieldimensional ist (Smith, 1998). Aber bei den tiefsten Denkern der Welt war dies nicht immer der Fall.
Eine kurze Geschichte der Weisheit
im Westen und im Osten
Einige der frühesten existierenden Weisheitsschriften finden sich auf Fragmenten von Tontafeln in Mesopotamien, die 5000 Jahre alt sind. Hier begegnet man so weisem Rat wie: „Wenn wir zu sterben verurteilt sind – lasst uns ausgeben, was wir haben“ und: „Derjenige, der viel Silber besitzt, mag glücklich sein; der viel Gerste besitzt, mag glücklich sein; aber derjenige, der überhaupt nichts besitzt, kann ruhig schlafen“ (Hooker & Hooker, 2004), neben Ermahnungen zu „gutem“ und „effektivem“ Verhalten (Baltes, 2004, S. 45). Altägyptische Weisheitsschriften von 2000 v. Chr. nehmen viele spätere Auffassungen von Weisheit vorweg, zum Beispiel, dass es nicht ratsam ist, sich selbst für weise zu halten: „Sei nicht aufgeblasen mit deinem Wissen, und sei nicht stolz, weil du weise bist“ (Readers Digest Association, 1973).
Doch es waren die griechischen Philosophen der Antike, „Liebhaber der Weisheit“, die den intellektuellen Rahmen für diese Qualität schufen, die das westliche Denken in den folgenden Jahrhunderten beherrschte. Von Sokrates (470–395 v. Chr.) bis Platon (428–322 v. Chr.) und Aristoteles (384–322 v. Chr.) entwickelte sich die Idee der Weisheit, sophia, und wurde schließlich von Wissen, Handwerkskunst und anderen Fähigkeiten unterschieden. Sokrates beschrieb „die enge Intelligenz, die aus dem kühnen Auge eines gerissenen Verbrechers blitzt“, als etwas anderes als Weisheit und betonte wiederholt, wie wichtig es sei, die eigenen Grenzen zu kennen (Osbeck & Robinson, 2005, S. 65). Sein Schüler Platon lehrte, dass die Kultivierung von Weisheit eine „tägliche Disziplin“ ist, die wir „mit allem Ernst“ auf uns nehmen sollten, indem wir „Vernunft“ entwickeln, um unseren Geist und unsere Begierden zu kontrollieren. Aristoteles verwendet den Begriff der „goldenen Mitte“ – ein Bild für die Ausgewogenheit der Art und Weise, wie wir verschiedene Aspekte unseres Charakters ausdrücken (Center for Ethical Deliberation, 2011). Alle diese alten Themen sind in moderne Definitionen von Weisheit eingegangen.
In späteren hebräischen und christlichen Texten wurde Weisheit zur Enthüllung von Wahrheit durch Gott (Birren & Svensson, 2005). Treue im Glauben war der Weg zur Weisheit. Wie man in Hiobs Ringen im Alten Testament erkennen kann, gehörte zu Weisheit, dass man seinen Platz in der Welt kennt, dass man akzeptiert, dass Vieles unser Verstehen übersteigt und dass man Gott treu bleibt (von Rad, 1972). Für Augustinus (354–430 n. Chr.) wurde Weisheit zu moralischer Perfektion ohne Sünde (Birren & Svensson, 2005). Es ist nicht überraschend, dass diese eher theologischen Vorstellungen von modernen Psychologen, die Weisheit untersuchten, nicht übernommen wurden.
Große Denker im Westen haben Weisheit als ein Zusammenwirken kognitiver Fähigkeiten verstanden, wobei bei der Beschreibung die Vernunft (Frances Bacon, 1596–1626; Descartes 1596–1650; Plato), das Wissen von Gott (Locke, 1632–1704) oder gerechtes Handeln (Kant, 1724– 1804; Montaigne, 1533–1592) (Birren & Svensson, 2005) besonders betont wurde. Zu diesem Zusammenwirken gehörte sowohl der Erwerb von Wissen wie auch die Entwicklung der Fähigkeit, sie in der Welt effektiv zu nutzen.
Östliche Weisheitstraditionen sind anders orientiert. Sie betonen die transformative Kraft von Weisheit, die darin besteht, dass sie sich positiv auf unsere kognitiven, intuitiven, affektiven und zwischenmenschlichen Erfahrungen auswirkt (Takahashi & Overton, 2005). Die frühesten schriftlichen Fassungen asiatischer Weisheitslehren sind die Upanishaden, die zwischen 800 und 500 v. Chr. (Durant, 1956) aufgezeichnet wurden. Hier beschreiben die gesammelten Geschichten von Heiligen und Weisen Weisheit, die sich nicht nur von faktischem Wissen unterschied, sondern auch transzendente spirituelle Erfahrungen enthielt, die über die der vertrauten sinnlichen Welt hinausgehen. Etwa um 600 v. Chr. tauchte die vielgestaltige Sammlung von Lehren, die man unter dem Begriff Taoismus zusammenfasst, in China auf. In dieser Tradition werden Intuition, Mitgefühl und vor allem ein ausgewogenes Leben in Harmonie mit den Gesetzen der Natur als die Essenz von Weisheit gesehen. Logisches Denken, Vernunft und Sitten gelten danach als verdächtig – weil sie zu leicht von engem Eigeninteresse beeinflusst werden und man von dem Ganzen der Natur entfremdet werden kann (Birren & Svensson, 2005). Bald darauf, ebenfalls in China, lehrte Konfuzius (551–479 v. Chr.), dass eine moralische Lebensführung und Erhalten der sozialen Ordnung Kennzeichen von Weisheit seien (Baltes, 2004; Birren & Svensson, 2005).
So einflussreich diese Weisheitstradition bei der Ausbildung der Kultur Asiens gewesen sind, es sind die Lehren des Buddha (5.–4. Jh. v. Chr.), die gegenwärtig die unmittelbarste Wirkung auf westliches psychologisches Denken und seine Praxis haben – vor allem durch die Verbreitung achtsamkeitsbasierter Behandlungsmethoden. Wie wir gleich sehen werden, wird in buddhistischen Lehren Weisheit als Einsicht sowohl in die Muster der natürlichen Welt als auch in die Formen gesehen, wie konventionelle geistige Gewohnheiten Leiden erzeugen. Wie in der taoistischen Tradition werden Vernunft und angehäuftes Wissen als weniger wichtig denn intuitive Einsicht gesehen. Einsicht kann demnach unsere Erfahrung wie auch unser Verhalten radikal transformieren.
Weisheit in der westlichen Psychologie
Vor dem Hintergrund der Bedeutung und Wichtigkeit von Weisheit im westlichen Denken überrascht es, wie wenig die Theoretiker der Traditionen der akademischen Psychologie wie auch der Psychotherapie über sie zu sagen hatten. Dies fällt besonders auf, wenn man bedenkt, dass in alter Zeit „weise“ Menschen die Therapeuten waren – die Leute holten routinemäßig bei ihnen Rat, wenn sie von Schwierigkeiten des Lebens betroffen waren.
Traditionelle Kompendien psychologischen Wissens, wie das Handbook of General Psychology (Wolmann, 1973) oder An Intellectual History of Psychology (Robinson, 1995) erwähnen das Thema gar nicht. Obwohl William James philosophisch orientiert war, thematisierte er Weisheit weder in The Principles of Psychology (1890/2007) noch in The Varieties of Religious Experience (1902/2010), in denen er zwar zahlreiche religiöse Texte zitiert, die das Wort verwenden, aber Weisheit selbst nie untersucht. Sigmund Freud erwähnt das Wort in seinen umfangreichen Schriften kaum, obwohl er von vielen als weiser Meister betrachtet wurde.* C. G. Jung, der ebenfalls wegen seiner Weisheit geschätzt wird, beschreibt transzendente Erfahrungen und bespricht die Traumbilder und mythischen Gestalten des „weisen alten Mannes“ und der „weisen alten Frau“, aber schreibt weder über Weisheit an sich noch wie man sie entwickelt.
Unter den frühen wichtigen Theoretikern war Erik Erikson (1999) der Erste, der Weisheit ausführlich besprochen hat. Er beschrieb sie als das Ergebnis erfolgreicher Bewältigung der achten und abschließenden Stufe menschlicher Entwicklung: „Integrität des Ego vs. Verzweiflung“. In späteren Schriften lieferte er mehr Einzelheiten und beschrieb Weisheit als ein „informiertes und distanziertes Interesse am Leben an sich“ oder als ein „wahrhaft engagiertes Nichtengagement“ (Erikson & Erikson, 1982/1995). Mit Eriksons Vorstellung, Weisheit habe mit einer erfolgreichen Bewältigung von Aufgaben der Entwicklung zu tun, ist die Schlussfolgerung George Vaillants verwandt, der die Harvard Study of Adult Development durchführte: