Bewusstseinsverengung
Alles ist der Eine Geist, neben dem nichts anderes existiert. Unendlich und alldurchdringend durchstrahlt er in seiner Grenzenlosigkeit das ganze Universum.
In unserem Erwachen aus dem Traum einer äußeren Erscheinungswelt werden wir erkennen, dass dieser Eine Geist unser wahres, göttliches Selbst ist und dass es keine verschiedenen individuellen Selbste gibt.
In der durch unsere geistige Verblendung bedingten Unkenntnis dieser Tatsache haben wir jedoch ein künstliches Ich erzeugt mit dem damit verbundenen Glauben, ein von allem anderen getrenntes Einzelwesen zu sein. Dieses fälschliche Ichgefühl verschleiert unseren Blick für die Wirklichkeit unseres wahren Seins und ist so die eigentliche Ursache unserer Unwissenheit.
Wir wissen nicht, dass wir im Grunde unseres Wesens der Eine Geist, die geburt- und todlose Wirklichkeit, sind. Wir haben unsere ursprüngliche, wahre Natur vergessen und leben unser Leben in der Identifizierung mit Körper, Sinnen und Verstand. So haben wir uns zu Sklaven des Karma-Gesetzes von Geburt und Tod gemacht.
Das individuelle Ich ist letztlich nichts anderes als der durch das dualistische und somit eingrenzende Denken hervorgerufene »mikrokosmische Teilaspekt« dieses allumfassenden Einen Geistes. Die grenzenlose Weite des Einen Geistes hat sich so zum kleinen Kreis des individuellen Bewusstseins verengt.
Es ist, als schauten wir durch einen Strohhalm hindurch in den Himmel und hielten das solcherart begrenzte Wahrnehmungsfeld für den ganzen Himmel. So halten wir an unserer dualistischen, verengten Sichtweise fest, als wäre sie die absolute Wahrheit.
Wir halten uns fest an unseren konditionierten Vorstellungen und bewegen uns nur innerhalb unserer selbst geschaffenen Grenzen, so dass wir all das, was über unser begrenztes Vorstellungsvermögen hinausgeht, für unmöglich halten.
In einem alten indischen Gleichnis wird die Situation des in seiner begrenzten Betrachtungsweise gefangenen Menschen mit einem Frosch im Brunnen verglichen.
Ein Frosch lebte seit langer Zeit in einem alten Brunnen, der sich am Rande des Meeres befand. Er wurde in ihm geboren und wuchs darin auf. Eines Tages fiel ein Fisch, der aus Versehen aus dem Meer gesprungen war, in den Brunnen. Als der Frosch sich von seinem ersten Schreck erholt hatte, fragte er vorsichtig den Neuankömmling:
»Was bist denn du für ein sonderbares Wesen und wo kommst du überhaupt her?«
Der Fisch antwortete: »Ich bin ein Fisch und komme aus dem großen Meer.«
»Vom großen Meer?«, fragte der Brunnenfrosch ganz erstaunt. »Wie groß ist denn das Meer?«
»Sehr groß«, gab der Fisch zur Antwort.
Der Frosch streckte seine Beine nach beiden Seiten aus und fragte: »Ist das Meer so groß?«
»Es ist viel größer!«, sagte der Fisch.
Da hüpfte der Frosch mit einem gewaltigen Sprung von der einen Seite des Brunnens zur anderen hin und fragte : »Ist es etwa so groß?«
»Mein Freund«, sprach da der Fisch, »das Meer ist so groß, dass du es nicht mit deinem Brunnen vergleichen kannst.«
»Ha!«, rief da der Frosch, »jetzt hast du dich verraten, du Lügner! Denn etwas Größeres als meinen Brunnen kann es gar nicht geben!«
Im Schattendunkel der Maya
Solange wir unser wahres Wesen des unbegrenzten überweltlichen Geistes mit allen Arten von Begriffen und Vorstellungen überdecken, befinden wir uns in diesem bedauernswerten Zustand der Bewusstseinsverengung. Die Folgeerscheinung ist, dass wir nur einen winzigen Ausschnitt, einen kleinen Teilaspekt der gesamten Wirklichkeit, erfassen können.
In diesem Zustand der Bewusstseinsverengung ist sich der Mensch der Universalität seines Geistes nicht mehr bewusst. So lebt er ein kümmerliches Dasein im Schattendunkel der Maya – dem großen Trugbild einer scheinbar äußeren Erscheinungswelt.
Wie wir uns aus dieser Leidenswelt befreien können, erklärt uns Milarepa, einer der bedeutendsten Meister des tibetischen Buddhismus aus dem 12. Jahrhundert:
Wenn jemand im eigenen Geist sich besinnt auf den ursprünglichen Zustand seines Geistes, dann lösen sich alle trügerischen Gedanken von selber auf in das Reich der letzten Wirklichkeit. Dann ist niemand mehr zu finden, der Leiden verursacht, und niemand, der leidet.
Das erschöpfendste Studium der buddhistischen Schriften lehrt uns nicht mehr als dies Eine.
Wollen wir ernsthaft auf den Grund allen Seins hinabtauchen, müssen wir alle unsere geliebten und gewohnten Wortbegriffe und Vorstellungen opfern und uns einem neuen Weg der Betrachtung öffnen. Erst dann werden wir der durch das begrenzende, begriffliche Denken hervorgerufenen Versklavung entrinnen.
Solange wir zu diesem Schritt nicht bereit sind, bleiben wir am »Finger, der zum Mond weist«, hängen, in der irrtümlichen Ansicht, der Finger sei das Ziel, auf das er hinweist. Im Lankavatara-Sutra, einer der wesentlichen Schriften des Mahayana-Buddhismus, heißt es:
Wenn ein Mensch mit dem Finger auf etwas weist, so könnte der Finger irrtümlich als das Ding genommen werden, auf das hingewiesen werden sollte. In gleicher Weise sind die Unwissenden und Einfältigen unfähig, die Idee aufzugeben, dass im Wort der Sinn selber enthalten sei.
Zen-Meister Hui-neng, der sechste Patriarch des Zen aus dem 8. Jahrhundert, sagt hierzu:
Die den Sinn kennen, sind über sinnleere Worte hinausgegangen und haben die Buchstaben transzendiert. Wer den Sinn erlangt, der vergisst die Worte; er schaut den Grund und lässt alle Lehren weit hinter sich.
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