Das Herzinfarkt-Sutra. Karl Brunnhölzl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Brunnhölzl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783942085434
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Schulen und selbst für das Mahāyāna, die Tradition, zu der die Prajñāpāramitā-Sūtren gehören. Gibt es irgendeine andere spirituelle Tradition, die sagt: »Alles, was wir lehren, vergiss es einfach«? Das ist in etwa vergleichbar damit, dass der Chef von Microsoft PC-Benutzern vor ein paar Jahren öffentlich nahe legte, Windows Vista nicht mehr zu kaufen, sondern stattdessen direkt von Windows XP zu Windows 7 überzugehen. Im Grunde warb er dadurch gegen sein eigenes Produkt. Mit dem Herz-Sūtra ist es ähnlich, aber es sagt uns nur, was wir nicht kaufen, und nicht, was wir stattdessen kaufen sollen.

      Kurz gesagt: Lesen wir das Herz-Sūtra zum ersten Mal, klingt es verrückt für uns, weil es immer wieder »kein, kein, kein« sagt. Kennen wir uns im Buddhismus aus, klingt es auch verrückt (vielleicht sogar noch mehr), weil es alles negiert, was wir gelernt haben und zu kultivieren versuchen.

      Warum wird es »Herz-Sūtra« genannt? Es hat diesen Namen, weil es das Herz des Mahāyāna lehrt, und zwar hauptsächlich dessen Sichtweise. Die grundlegende Motivation des Mahāyāna ist jedoch auch implizit in diesem Sūtra enthalten, und zwar in der Figur von Avalokiteśvara, dem großen bodhisattva, der die Verkörperung der liebevollen Güte und des Mitgefühls aller Buddhas ist. Es ist das einzige Prajñāpāramitā-Sūtra, in dem Avalokiteśvara überhaupt auftaucht, und er ist sogar die Hauptperson. Somit lehrt das Herz-Sūtra Leerheit durch die Verkörperung des Mitgefühls. Es heißt oft, dass Leerheit das Herz des Mahāyāna sei und das Herz der Leerheit Mitgefühl sei. In den Schriften wird manchmal der Ausdruck »Leerheit mit einem Herz aus Mitgefühl« verwendet. Es ist wichtig, das niemals zu vergessen. Durch Avalokiteśvaras Anwesenheit im Text wird der Aspekt des Mitgefühls hervorgehoben und betont, dass wir diesen Aspekt nicht vergessen sollten. Lesen wir einfach nur all die »Keins« und werden dann nach dem »keinen Weg« des »keinen Selbst« und des »keinen Erlangens« süchtig, wird alles ein bisschen trocken oder deprimierend, und wir mögen uns fragen: »Warum tun wir das?« oder »Warum tun wir das nicht?« In der Tat ist die Herz-Essenz der Prajñāpāramitā-Sūtren und des Mahāyāna die Einheit von Leerheit und Mitgefühl. Betrachten wir die längeren Prajñāpāramitā-Sūtren, sehen wir, dass sie beide Aspekte in umfassender Weise lehren. Außer über Leerheit, sprechen sie auch detailliert über den Pfad, über die Art und Weise, wie liebevolle Güte und Mitgefühl zu kultivieren sind, wie bestimmte Meditationen auszuführen und wie die Pfade zu beschreiten sind. Sie sagen nicht immer nur »kein«, sondern stellen die Dinge manchmal auch in einem positiveren Licht dar. Selbst das Herz-Sūtra wartet kurz vor Ende mit einigen Passagen ohne »kein« auf.

      Ohne ein weiches Herz und Mitgefühl zu entwickeln, die, als würden wir Wasser zugeben, unsere geistige Starrheit aufweichen, besteht die Gefahr, dass die Lehren über Leerheit unser Herz sogar noch mehr verhärten können. Wenn wir glauben, Leerheit zu verstehen, unser Mitgefühl dadurch aber nicht wächst oder sogar noch abnimmt, befinden wir uns auf dem Holzweg. Daher ist es für diejenigen unter uns, die sich als Buddhisten verstehen, gut und notwendig, Mitgefühl und bodhicitta in sich entstehen zu lassen, bevor sie dieses Sūtra studieren, rezitieren und kontemplieren. Alle anderen mögen sich mit irgendeinem Fleckchen Mitgefühl, das sie in ihrem Herzen finden können, verbinden.

      Aus einer anderen Perspektive betrachtet, ist das Herz-Sūtra eine Einladung an uns, einfach loszulassen und zu entspannen. Wir können die Worte in diesem Sūtra, die mit einem »Kein« daherkommen, wie etwa »kein Auge«, »kein Ohr«, durch alle unsere Probleme ersetzen, wie etwa »keine Depression«, »keine Angst«, »keine Arbeitslosigkeit«, »kein Krieg« usw. Das mag zu vereinfachend klingen, aber wenn wir es tun und den Text tatsächlich zu einer Kontemplation darüber machen, was alle diese Dinge wie Depression, Angst, Krieg und Wirtschaftskrise wirklich sind, kann das sehr kraftvoll sein, vielleicht sogar viel kraftvoller als die ursprünglichen Worte des Sūtra. Normalerweise sind wir zum Beispiel nicht so sehr an unseren Augen interessiert, daran, ob sie wirklich existieren oder nicht. Eines der Grundprinzipien der Prajñāpāramitā-Sūtren in Bezug auf die Kontemplation der Bedeutung von Leerheit besteht darin, die Untersuchung so persönlich wie möglich zu machen. Es geht nicht darum, irgendwelche stereotypen Formeln zu rezitieren, ohne jemals zum Kern unseres eigenen Anhaftens an einer wirklichen Existenz der Phänomene, an denen wir offensichtlich kleben, vorzudringen – letztlich unser Anhaften an einem Ego. Das Herz-Sūtra sagt nicht »kein Selbst«, »kein Heim«, »kein Partner«, »keine Arbeit« oder »kein Geld«, aber das sind nun mal die Dinge, aus denen wir uns normalerweise viel machen. Um das Ganze daher relevanter für unser Leben zu machen, sollten wir diese Dinge einfügen. Das Herz-Sūtra gibt uns eine gute Vorlage dafür, wie wir Leerheit kontemplieren können. Die längeren Prajñāpāramitā-Sūtren fügen viele andere Dinge ein und sagen nicht nur »kein Auge«, »kein Ohr« usw. Sie enthalten endlose Listen aller möglichen Phänomene, und analog dazu sollten wir unsere eigene Liste der Phänomene, die unser persönliches Universum ausmachen, aufstellen und dann die Herangehensweise des Herz-Sūtra darauf anwenden.

      Es gibt in mehreren der längeren Prajñāpāramitā-Sūtren Berichte darüber, dass unter den Zuhörern Menschen waren, die bereits bestimmte fortgeschrittene Stufen spiritueller Entwicklung oder Einsicht erreicht hatten, durch die sie von saṃsārischer Existenz und Leiden befreit waren. Diese Leute, die im Buddhismus arhats genannt werden, hörten dem Buddha zu, als er über Leerheit sprach, und reagierten darauf sehr unterschiedlich. Einige dachten: »Das ist verrückt, lasst uns gehen«, und sie gingen weg. Andere blieben, aber einige von ihnen erlitten einen Herzinfarkt, erbrachen Blut und starben. Sie waren anscheinend nicht rechtzeitig gegangen. Diese Arhats waren so schockiert von dem, was sie da hörten, dass sie auf der Stelle starben. Das ist der Grund, warum jemand kürzlich vorschlug, dass wir das Herz-Sūtra das Herzinfarkt-Sūtra nennen könnten. Eine andere Bedeutung des Namens könnte also sein, dass dieses Sūtra direkt zum Kern oder zum Herzstück der Sache vordringt, während es gnadenlos alle Ego-Trips angreift, die uns davon abhalten, zu unserem wahren Herzen zu erwachen. Wie auch immer, bis jetzt hat niemand, den ich kenne oder von dem ich gehört habe, davon einen Herzinfarkt erlitten, was die gute Nachricht ist. Die schlechte Nachricht ist aber, dass es wahrscheinlich auch niemand verstanden hat.

      LEERHEIT BEDEUTET LOSLASSEN

      Verankert darin, dass es keinen Grund und Boden gibt

      Das Herz-Sūtra und die anderen Prajñāpāramitā-Sūtren sprechen über viele Dinge, aber ihr grundlegendes Thema ist die fundamentale Tatsache, dass unsere Existenz keinen Grund und Boden hat. Egal was wir tun, egal was wir sagen und fühlen, wir brauchen nichts davon zu glauben. Es gibt rein gar nichts, woran wir uns festhalten könnten, und selbst das ist nicht sicher. Somit ziehen uns diese Sūtren den Teppich unter den Füßen weg und nehmen uns auch alle unsere Lieblingsspielzeuge fort. Wenn uns normalerweise jemand eines unserer geistigen Spielzeuge wegnimmt, dann finden wir einfach neue. Das ist einer der Gründe, warum viele Prajñāpāramitā-Sūtren so lang sind – sie listen alle Spielzeuge auf, an die wir nur denken können und sogar noch etliche andere mehr, aber unser Geist wird auch weiterhin neue ersinnen und neue ergreifen. Der wesentliche Punkt ist, dahin zu gelangen, dass wir tatsächlich aufhören, nach dem nächsten Spielzeug zu suchen und zu greifen. Dann müssen wir schauen, wie sich dieser Geisteszustand anfühlt. Wie fühlt sich unser Geist an, wenn wir nicht nach irgendetwas greifen, wenn wir nicht versuchen, uns selber zu unterhalten, und wenn unser Geist nicht außen sucht (oder wo auch immer), wenn also nichts übrig ist, wohin wir gehen könnten? Wenn wir mitten auf dem Meer sind, weit vom Land entfernt, und wir lassen einen Landvogel von unserem Schiff auffliegen, so kommt dieser Vogel nicht weit. Er wird immer zum Schiff zurückkehren, weil das der einzige Platz für ihn zum Landen ist. Ebenso versuchen unsere Gedanken und Emotionen immer irgendwo hinzugelangen, in den Himmel aufregender Dinge zu fliegen, aber sie können nicht wirklich irgendwo außerhalb unseres Geistes hingehen und werden schließlich immer wieder genau zu dem Geist, in dem sie entstanden sind, zurückkehren. Daher brauchen wir unsere Gedanken nicht festzunageln, sondern es ist in Ordnung, wenn sie sich bewegen. Selbst wenn sie sich weit weg bewegen, müssen wir uns keine Sorgen um sie machen, ihnen nachrennen oder eine Suchmannschaft losschicken. Es ist unvermeidlich, dass sie sich immer wieder im Geist niederlassen, also verlieren wir auch niemals irgendwelche Gedanken. Das bedeutet, dass wir nicht hinter ihnen herjagen oder sie zurückbringen müssen. Ganz grundsätzlich können