Es liegt auch keine Hoffnung in Prajñāpāramitā
Der durchlässige Vajra der Furchtlosigkeit
Darin ankommen, nirgends zu verweilen
Das Mantra – der letztendliche Sprung von der Klippe
EINE MEDITATION ÜBER PRAJÑĀPĀRAMITĀ UND DAS HERZ-SŪTRA
DAS SŪTRA DES HERZENS DER GLORREICHEN DAME PRAJÑĀPĀRAMITĀ
DIE VERRÜCKTHEIT DES HERZ-SŪTRA
Es gibt keinen Zweifel, dass das Herz-Sūtra der am häufigsten benutzte und rezitierte Text in der gesamten mahāyāna-buddhistischen Tradition ist, die bis heute in Japan, Korea, Vietnam, Tibet, der Mongolei, Bhutan, China, Teilen von Indien und Nepal und, in neuerer Zeit, in Amerika und Europa lebendig ist. Viele Menschen haben ganz unterschiedliche Dinge darüber gesagt, was das Herz-Sūtra ist und was es nicht ist, etwa, dass es das Herz der Weisheit sei, eine Beschreibung der Dinge, wie sie wirklich sind, die zentrale Lehre des Mahāyāna, das Konzentrat aller Prajñāpāramitā-Sūtren (das zweite Drehen des Dharmarades des Buddha) oder eine kurzgefasste Erläuterung der Leerheit. Bevor wir zu den Worten des Herz-Sūtra selbst kommen, mag es hilfreich sein, zuerst seinen Hintergrund in der buddhistischen Tradition wie auch die Bedeutung von prajñāpāramitā und »Leerheit« etwas näher zu beleuchten.
Kurz gefasst: Was wir mit Sicherheit über das Herz-Sūtra sagen können, ist, dass es vollkommen verrückt ist. Wenn wir es lesen, macht es keinerlei Sinn. Nun, vielleicht machen der Anfang und das Ende Sinn, aber alles dazwischen klingt wie eine ausgeklügelte Form von Unsinn. Das kann man als das grundlegende Merkmal der Prajñāpāramitā-Sūtren im Allgemeinen ansehen. Wer das Wort »kein« mag, mag vielleicht das Sūtra, denn »kein« ist das am meisten verwendete Wort – kein dies, kein das, kein alles. Wir könnten auch sagen, dass es ein Sūtra über Weisheit sei, aber es ist mit Sicherheit ein Sūtra über eine Art von verrückter Weisheit. Lesen wir es, klingt es irre, aber das ist in der Tat der Punkt, an dem der Weisheitsanteil ins Spiel kommt. Was das Herz-Sūtra (wie alle Prajñāpāramitā-Sūtren) tut, ist, alle unsere üblichen gedanklichen Bezugsrahmen, alle unsere starren Vorstellungen, alle unsere Glaubenssysteme und Bezugspunkte, auch die, die sich auf unseren spirituellen Weg beziehen, durchzuschneiden, auseinanderzunehmen und niederzureißen. Es tut dies auf einer sehr grundlegenden Ebene, nicht bloß in Bezug auf unser Denken und unsere Vorstellungen, sondern auch in Bezug auf unsere Wahrnehmungen: wie wir die Welt sehen, wie wir hören, wie wir riechen, schmecken, fühlen, wie wir uns selbst und andere sehen und emotional darauf reagieren usw. Dieses Sūtra zieht uns den Teppich unter den Füßen weg und lässt nichts, woran wir auch nur denken können, intakt, ebenso wenig wie vieles, was wir noch nicht einmal denken können. Das nennt man »verrückte Weisheit«. Ich möchte hier die Warnung aussprechen, dass dieses Sūtra gefährlich für Ihre saṃsārische geistige Gesundheit ist. Was Sangharakshita über das Diamant-Sūtra sagt, gilt gleichermaßen für alle Prajñāpāramitā-Sūtren, einschließlich des Herz-Sūtra:
… wenn wir darauf bestehen, dass die Erfordernisse des logischen Geistes zufriedengestellt werden, verfehlen wir den springenden Punkt. Was das Diamant-Sūtra uns tatsächlich bietet, ist keine systematische Abhandlung, sondern eine Reihe von Hieben mit einem Vorschlaghammer, von dieser und jener Richtung angreifend, um unsere grundlegende Verblendung zu durchbrechen. Es macht die Sache für den logischen Geist nicht einfach, die Dinge in eine logische Form zu bringen. Dieses Sūtra wird verwirrend, irritierend, ärgerlich und unbefriedigend sein – und vielleicht können wir nicht darauf hoffen, dass es anders sei. Wenn alles in einer ordentlichen und klaren Art und Weise dargelegt wäre, ohne offene Fragen zu hinterlassen, könnten wir in der Gefahr sein, zu denken, dass wir die Vollendung der Weisheit begriffen hätten.1
Eine andere Art und Weise, das Herz-Sūtra zu betrachten, ist, es als ein sehr verdichtetes Kontemplationshandbuch zu sehen. Es ist nicht nur ein zu lesender oder zu rezitierender Text, sondern seine Bedeutung soll in einer Weise kontempliert werden, die so detailliert wie nur möglich ist. Als Herz-Sūtra vermittelt es die Herz-Essenz dessen, was Prajñāpāramitā, die »Vollendung der Weisheit oder Einsicht«, genannt wird. Es ist sehr direkt, ohne sich mit Details aufzuhalten. Es ist mehr wie ein kurzes Memo dafür, alle Elemente unserer körperlichen und geistigen Existenz zu kontemplieren, und zwar aus der Perspektive, was wir jetzt sind, was wir werden, während wir auf dem buddhistischen Pfad voranschreiten, und was wir am Ende dieses Pfades erlangen (oder nicht erlangen). Wenn wir alle Details lesen wollen, müssen wir uns den längeren Prajñāpāramitā-Sūtren zuwenden, die sich auf ungefähr einundzwanzigtausend Seiten im tibetisch-buddhistischen Kanon belaufen – einundzwanzigtausend Seiten mit lauter »Keins«. Alleine das längste Sūtra in einhunderttausend Zeilen besteht aus zwölf dicken Bänden. Das Herz-Sūtra befindet sich sozusagen am unteren Ende der Skala, und das kürzeste Sūtra, das mein persönliches Lieblingssūtra ist, besteht aus nur einem Buchstaben. Es beginnt mit der üblichen Einleitung: »Einst weilte der Buddha in Rājagṛha auf dem Geierscharberg …« und so weiter, und dann sagte er: »A.« Das Sūtra endet damit, dass alle Götter und alle anderen Anwesenden jubilieren, und dann ist alles vorbei. Es soll Menschen geben, die tatsächlich die Bedeutung der Prajñāpāramitā-Sūtren durch das bloße Hören oder Lesen von »A« erkennen können.
Das Herz-Sūtra ist also ein Meditationshandbuch, und wir könnten auch sagen, dass es ein großes Koan ist. Aber es ist nicht nur ein Koan, es ähnelt vielmehr gewissen russischen ineinander geschachtelten Holzpuppen: Außen sieht man eine Puppe, aber dann gibt es darin eine kleinere und noch viele weitere kleinere Puppen in den folgenden. Ebenso sind alle Textstellen mit »kein« in dem großen Koan des Sūtra ihrerseits kleine Koans. Jede einzelne Aussage mit einem »Kein« ist ein unterschiedliches Koan im Hinblick darauf, worauf sich das jeweilige »Kein« bezieht, wie etwa »kein Auge«, »kein Ohr« usw. Es ist eine Einladung, darüber zu kontemplieren, was das bedeutet. »Kein Auge« und »kein Ohr«, das klingt sehr simpel und geradlinig, aber wenn wir ins Detail gehen, ist es das überhaupt nicht mehr. Mit anderen Worten, alle diese verschiedenen Textstellen mit »kein« bieten uns verschiedene Blickwinkel oder Facetten des Hauptthemas des Sūtra: der Leerheit. Leerheit bedeutet, dass die Dinge nicht so existieren, wie sie scheinen, sondern dass sie wie Trugbilder und Träume sind. Sie haben keine Natur, keinen auffindbaren Kern, der ihnen eigen wäre. Jede dieser Stellen lässt uns genau dieselbe Botschaft betrachten. Die Botschaft und ihre Betrachtung sind nicht wirklich verschieden, aber wir betrachten sie in Bezug auf verschiedene Dinge. Was bedeutet es, dass das Auge leer ist? Was bedeutet es, dass die sichtbare Form leer ist? Was bedeutet es, dass selbst Weisheit, Buddhaschaft und Nirvāṇa leer sind?
Aus einer traditionellen buddhistischen Sicht könnten wir sogar sagen, dass das Herz-Sūtra nicht nur verrückt, sondern bilderstürmerisch oder sogar ketzerisch ist. Viele Menschen haben gegen die Prajñāpāramitā-Sūtren opponiert, weil sie alle zentralen Lehren des Buddhismus selbst zusammenbrechen lassen, wie etwa die Vier Edlen Wahrheiten, den Edlen Achtfachen buddhistischen Pfad und Nirvāṇa. Diese Sūtren sagen nicht nur, dass unsere gewöhnlichen Gedanken,