Unser Schmerz ist ein Weckruf
Als wir begannen, den »Wegweiser der 12 Schritte zu Heilung und Transformation« zu entwickeln, fragte ich meine Schüler: »Womit beginnt wohl der Wegweiser?«
Viele meinten, der erste Schritt sei, sich mit der Liebe zu verbinden. Das macht Sinn. Aber ich wollte, dass sie noch weiter gehen.
Bitte beantworte diese Frage für dich: »Womit hat die Heilung deiner Ansicht nach begonnen? Was hat dich dazu bewogen, zu diesen Retreats zu kommen?«
Celia antwortete, ohne zu zögern: »Für mich begann alles damit, den Schmerz wahrzunehmen.«
Als sie das sagte, spürten wir alle eine Übereinstimmung. Für die meisten von uns begann die Heilungsreise, als Schmerz hochkam und sich nicht mehr unterdrücken, wegschieben oder ignorieren ließ. Für die meisten war Schmerz der Weckruf. Er zeigte uns, wo unser Leben aus der Bahn geraten war und was in Angriff genommen werden musste, damit Heilung eintreten konnte.
In unserer Welt wird Schmerz nicht als Botschafter betrachtet. Wir möchten, dass er verschwindet. Wir nutzen alle möglichen Substanzen, um unseren Schmerz auszuschalten oder zu betäuben. Alkohol, Arzneimittel und Drogen, sogar Nahrung, Arbeit oder Sex werden zu Mitteln, um dem Schmerz zu entfliehen, zu Mitteln, mit denen wir unseren Schmerz zu vermeiden oder zu verleugnen suchen. In unserem Bestreben, Vergnügen zu empfinden und dem Schmerz zu entfliehen, kommen wir nicht auf die Idee, dass wir auf die Botschaft hören müssen, die unser Schmerz uns bringt.
Aber Celia hatte recht. Wir müssen darauf hören. Solange wir nicht wissen, was uns wehtut und warum es schmerzt, werden wir kaum motiviert sein, die transformierende Reise auf uns zu nehmen.
Unserem Schatten begegnen
So hören wir in Phase eins unserer Arbeit damit auf, unseren Schmerz zu verleugnen oder zu betäuben, und beginnen, ihn zu spüren und die Botschaft zu hören, die er mit sich bringt. Das ruft bei jedem ein großes Gefühl der Scham hervor. Wir haben gesellschaftliche und spirituelle Masken entwickelt, hinter denen wir uns verstecken und vorgeben, glücklich zu sein, obwohl wir uns innerlich dreckig fühlen. Uns selbst und anderen unseren Schmerz einzugestehen bedeutet, unsere Maske abzunehmen und die Wahrheit darüber zu sagen, wie wir uns fühlen. Es bedeutet, emotional ehrlich und verletzlich zu sein.
Natürlich haben wir Angst davor, uns ohne unsere Maske in der Welt zu bewegen. Denn oft werden wir in der Welt draußen für jede Schwäche, die wir zeigen, gekreuzigt, verurteilt und beschuldigt. Es fühlt sich nicht sicher an, zuzulassen, dass andere Menschen sehen, wer wir wirklich sind und wie wir uns wirklich fühlen. Wir haben Angst und schämen uns für das, was in uns ist. Wie Adam und Eva verstecken wir unsere Angst und geben vor, glücklich zu sein, auch wenn wir es nicht sind.
In unserer Heilungsarbeit bauen wir behutsam einen Raum bedingungsloser Liebe und Annahme auf, damit es sich sicher anfühlt, anderen unseren Schmerz mitzuteilen. Wir nutzen die Richtlinien für den Affinity-Prozess, sodass jeder von uns die Verantwortung für seine Erfahrung übernimmt und seine Angst und Scham nicht auf andere projiziert. (Weitere Informationen zum Affinity-Gruppenprozess siehe in meinen Büchern »Im Herzen leben« und »Die Schlüssel zum Königreich«.)
Wir lernen, aus dem Herzen zu sprechen und zuzuhören. Wir lernen, einander zu vertrauen im Bewusstsein der Wahrhaftigkeit unserer Erfahrung, sodass wir uns nicht mehr verstecken müssen. Wir kommen aus unserem dunklen Kämmerchen heraus. Wir geben uns selbst die Erlaubnis, gesehen und gehört zu werden. Wir geben uns die Erlaubnis, geliebt und akzeptiert zu werden – so, wie wir eben sind.
Der Großteil der Arbeit in Phase eins besteht darin, eine Gemeinschaft der Heilung zu schaffen, einen sicheren Raum, in dem wir unserem Schatten und dem Schatten anderer mitfühlend begegnen. Und während wir dort unsere Wahrheit sprechen, bemerken wir, dass unsere Erfahrung sich gar nicht so sehr von der Erfahrung anderer unterscheidet. Unser Schmerz ist ihr Schmerz. Unsere Probleme und Sorgen, unsere Selbstverurteilungen, unsere Minderwertigkeitsgefühle sind gar nicht so verschieden von denen anderer. Wir leben in einer ähnlichen psychischen Welt, in der unsere Angst und Scham immer wieder aufkommen.
Jahrelang glaubten wir, die Einzigen zu sein, die sich so unzureichend fühlten. Wir dachten, alle anderen da draußen seien glücklich und ausgeglichen. Wir wussten nicht, dass wir nur auf ihre Masken sahen, die sie trugen. Aber in dem liebevollen, urteilsfreien Raum unserer Heilungsgemeinschaft, wo es ungefährlich ist, unsere Masken abzunehmen, begreifen wir, dass wir nicht die Einzigen sind, die Schmerz empfinden. Wir sind nicht die Einzigen, die sich mit Angst und Schamgefühlen plagen. Wir sind nicht die Einzigen, die sich schuldig, angsterfüllt und nicht liebenswert fühlen. Jeder in diesem Raum fühlt sich so. Es ist nur das erste Mal, dass wir anderen unseren Schmerz mitteilen. Das ist ein Meilenstein für uns alle, und daraus entsteht die Dynamik, die wir brauchen, um aus unserer Verleugnung zu kommen.
Wir bewegen uns aus einer Welt heraus, in der wir unsere Ängste und Schwächen nicht zugeben können, hinein in eine Welt, wo es sich sicher anfühlt, anderen gegenüber ehrlich zu sein. Wir bewegen uns weg von einer Welt, in der wir die Wahrheit verbergen müssen, hin zu einer Welt, in der alle die Wahrheit anerkennen können.
In Phase eins der Arbeit begegnen wir unserem Schmerz. Wir teilen ihn mit anderen. Wir werden Zeuge der Universalität unseres Schmerzes und lernen, mit uns selbst und anderen behutsam umzugehen.
Anstatt uns für unsere Gefühle zu schämen, lernen wir, sie zu akzeptieren und uns durch sie hindurchzubewegen. Wir unterstützen einander, indem wir einen Raum des Mitgefühls halten, innerhalb dessen wir uns mit unseren Ängsten konfrontieren können. Wir lernen, unsere Schattenseiten mit den Augen der Liebe zu betrachten. Das bedeutet, dass wir keine Angst mehr vor unseren ungeheilten Aspekten oder vor jenen der anderen haben müssen.
In der Gemeinschaft können wir einen Raum für die Heilung schaffen. Gemeinsam können wir eine liebevolle Umgebung hervorbringen und eine Kultur der Vergebung, die es uns ermöglicht, uns selbst zu erkennen und Verantwortung für unsere Urteile zu übernehmen, sodass wir aufhören, andere anzugreifen.
Uns mit der Liebe zu verbinden, wird zu einem wichtigen Aspekt der Arbeit in Phase eins. Wir können unseren Schatten und die Schattenseiten anderer nicht erkennen, solange wir uns nicht geliebt und akzeptiert fühlen. Ohne die Verbindung zur Liebe lehnen wir den Schatten entweder ab oder verleugnen ihn (wie wir das bislang gemacht haben) – oder aber wir identifizieren uns mit ihm und glauben, dass wir dieser Schatten sind. Dann wenden wir uns entweder von unserer Heilungsreise ab, weil sie uns zu viel Angst macht, oder wir begeben uns in unsere persönliche Unterwelt, ohne eine Taschenlampe mitzunehmen, mit der wir sie erhellen könnten. Keine dieser Alternativen ist konstruktiv.
Bevor wir die Unterwelt betreten, um unserem Schatten ins Auge zu sehen, müssen wir uns die Zeit nehmen, die wir brauchen, um uns mit dem Licht und der Liebe mitfühlenden Gewahrseins auszurüsten.
Phase zwei des Wegweisers zu Heilung und Transformation wird uns mit unseren tiefsten Verletzungen und dysfunktionalen Glaubensmustern konfrontieren, die uns selbst betreffen.
Wir müssen bereit sein, um all das anzuschauen. Wir müssen wissen, dass wir unsere Ängste und Schamgefühle ertragen und in behutsamer, liebevoller Weise halten können. Wir müssen wissen, dass wir all unsere abgelehnten und verleugneten Aspekte in uns sehen und akzeptieren können. Das hilft uns, sie aufzuarbeiten und zu integrieren. Auf diese Weise stellt sich ein Ganzsein in unserer Psyche ein.
Die Reise in die Unterwelt
Mach dir keine Illusionen. Es braucht Mut, um die Reise nach innen zu beschreiten.
In Phase zwei sind wir gefordert, unsere Mutter- und Vaterwunden anzuschauen und durch die Angst und die Schamgefühle, die damit verbunden sind, zu gehen. Wir sind gefordert hinzusehen, wo unsere Muster des Selbstbetrugs in der Kindheit begannen und auf welche Weise sie sich im Erwachsenenleben fortgesetzt haben, wo sie die Entscheidungen in Bezug auf unsere Arbeit und unsere Beziehungen beeinflussen.
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