Ein Beispiel, wie ich wider Willen lernen mußte, war, als mir jegliche Empfindung eigenen Lebens abhanden gekommen war, und ich gezwungenermaßen nach Leben außerhalb von mir suchte. Nach rund vierzig Jahren der Erfahrung inneren Lebens war das eine sehr schwierige Zeit. Es war eine Zeit des Übergangs und der Akklimatisierung, ohne daß ich vorausschauen oder auch nur verstehen konnte, was geschehen war. Ich versuchte dennoch, so gut es ging zurechtzukommen, und da ich täglich die Kommunion empfing, dachte ich, es könnte vielleicht nützlich sein, wenn ich die Hostie jederzeit bei mir trage – in einer Pyxis um den Hals gehängt. Mit dem Wegfall des inneren Lebens hatte die Eucharistie keine Wirkung mehr auf mich. Während sie mich früher immer in ihre geheimnisvolle Stille hineingezogen hatte, trat jetzt keine solche Wandlung mehr ein. Wenn überhaupt, gab es zuviel der Stille. Da mir die Eucharistie die Empfindung von innerem Leben nicht wiedergeben konnte, fühlte ich mich doppelt verloren und beschloß, sie bei meiner Suche nach Gott draußen wenigstens bei mir zu tragen.
Nach einigen Wochen mußte ich jedoch einsehen, daß diese List nichts nützte, da sie weder ein Gefühl von Leben oder Geborgenheit noch sonst eine Veränderung meiner Lage brachte. An dem erwähnten Tag unter dem Zypressenbaum nahm ich dann die Hostie und erkannte, daß alle Dinge in Gott waren, daß Er näher und persönlicher war, als ich jemals zu hoffen gewagt hatte. Plötzlich zu begreifen, du lebst und wandelst in Gott, ist eine einmalige Entdeckung, die das Gefühl des Verlorenseins, das mit dem Verschwinden der persönlichen Lebensempfindung einhergeht, für immer vertreibt.
Wenn nichts anderes, so zeugt dieses Ereignis (und viele, die unerzählt bleiben) von meiner unentwegten Anstrengung, am gewohnten Bezugsrahmen festzuhalten, ein Klammern, das nichts enthüllte, bis es losgelassen wurde. Ich könnte hinzufügen, daß unter den vielen Vorstellungen, die ich aufgeben mußte, auch meine Vorstellung vom Aufgeben war. Es war nicht ich, die mein Selbst für Gott aufgab, vielmehr hatte Gott das Selbst ganz und gar aufgegeben. Wenn man über das Selbst hinaus geht, geht eben alles dahin, selbst „das“, von dem ich erwartete, daß es bleiben würde.
Ein oder zwei Wochen nach dieser Einsicht begab ich mich zur Einkehr bei den Einsiedler-Mönchen am Big Sur. Am zweiten Tag spätnachmittags stand ich an ihrem böigen Abhang und blickte über den Ozean, als eine Möwe kam, die gleitend, tauchend auf dem Wind spielte. Ich beobachtete sie, wie ich noch nie in meinem Leben etwas beobachtet hatte. Ich war wie gebannt, es war, als ob ich mich selbst im Flug erblickte – die übliche Trennung zwischen uns war aufgehoben. Doch da war noch mehr da als nur die fehlende Getrenntheit, es war „etwas“ wahrhaft Schönes, Unbegreifliches. Als ich endlich meinen Blick den mit Kiefern bewachsenen Hügeln hinter dem Kloster zuwandte, war auch da keine Trennung, nur das „etwas“, das mit und durch jeden Anblick strömte und durch jedes einzelne Ding. Das Einssein all dessen zu erblicken ist so, als hättest du eine 3D-Brille vor den Augen, und ich dachte mir: sicher ist es das, was sie meinen, wenn sie sagen „Gott IST Überall“.
Ich hätte den Rest meines Lebens dort stehenbleiben und schauen können, doch nach einer Weile dachte ich, das sei zu schön, um wahr zu sein. Der Geist gaukelte mir da etwas vor und beim Glockenschlag würde alles weg sein. Nun, schließlich schlug die Glocke und am folgenden Tag schlug sie wieder und die ganze Woche, aber die 3D-Brille war noch immer intakt. Was ich für ein Täuschungsmanöver des Geistes hielt, entpuppte sich als permanente Art des Sehens und Wissens, die ich nach besten Kräften zu beschreiben versuche. Meine ganze Welt wurde langsam von innen nach außen gestülpt. Ich sollte nie wieder zur gewohnten relativen Sichtweise separater Dinge oder Individualitäten zurückkehren. Damit aber kein Irrtum entsteht, das Verschwinden der Getrenntheit ist in sich bedeutungslos. Was an dieser Art des Sehens von Bedeutung ist, ist DAS, worin sich alle Getrenntheit auflöst.
Bevor ich fortfahre und die neue Art des Sehens zu beschreiben versuche, möchte ich noch sagen, daß nach der Entdeckung Gottes Überall – Seines Einsseins, wie ich es nannte – ich tausendfach belohnt wurde für den bestürzenden Verlust eines persönlichen Gottes im Innern. Scheinbar mußte ich zuerst durch beide, den persönlichen und den unpersönlichen hindurch, um zu erkennen, daß Gott näher als beide und jenseits von beiden lag.
Die Vorstellungen und Erfahrungen Gottes als persönliche im Innern oder unpersönliche im Äußeren sind rein relativ und gehören zum Selbst und seiner typischen Art von Bewußtsein. Gott aber ist jenseits der Relativität unserer Vorstellungen und Erfahrungen. Er ist uns tatsächlich so nahe, daß er nicht lokalisierbar ist. Diese Nähe zu begreifen, sie zu sehen, ist die Entdekkung der Definition Gottes als „Überall“. Gott IST tatsächlich überall, ist alles, was wahrhaft existiert, denn wohin wir auch blicken, gibt es nichts anderes. In Wahrheit ist Gott somit weder persönlich noch unpersönlich, weder innen noch außen, sondern grundsätzlich überall und nirgends im Besonderen. Gott ist alles, was wirklich existiert – alles natürlich außer dem Selbst.
Kapitel Drei
Schließlich wurde es unumgänglich, einiges an meinem Lebensstil zu ändern. Jetzt wenigstens war es mir unmöglich geworden, an den ständigen Belanglosigkeiten und dem Lärm meiner gewohnten Umgebung teilzuhaben. Der Kräfte beraubt, die man braucht um zu dominieren, zu kontrollieren und bei den oft chaotischen Zuständen im Haushalt obenauf zu bleiben, war mein Durchsetzungsvermögen als Mutter von vier Teenagern schlagartig auf null gesunken. Sobald das Selbst nicht mehr Regie führt, sind die gewohnten Abwehrmechanismen nicht mehr in Aktion, und die ganze Last der Bewältigung fällt dem physischen Körper zu. Obwohl ich nie nervös oder gereizt, ängstlich oder dergleichen war, hatte ich dennoch den Eindruck, ich müßte von nun an Bleigewichte mitschleppen, falls ich so weitermachte wie bisher. Das schaffte ich einfach nicht.
Bis mir der Teppich (mein „Selbst“) unter den Füßen weggezogen wurde, hatte ich keine Ahnung, wie sehr ich mich auf den eigenen „Dampf“ verlassen hatte – auf mentalen und emotionalen Schwung, nicht auf körperliche Stärke. Scheinbar haben wir eine Unmenge subtiler Energien zur Verfügung, von denen wir nichts ahnen, bis sie weg sind. Später sollte ich allerdings ganz klar erkennen, daß gerade diese Energien die Abwehrkräfte des Selbst gegen seine eigene Vernichtung sind. Zunächst aber dauerte es ziemlich lange, bis ich lernte, wie ich ohne jegliche Energieempfindung weierleben konnte. Es ist, als würden wir mit dem Lebenlernen noch einmal ganz von vorne anfangen. Auch wenn ich es im nachhinein verstehe, war ich damals bestürzt und verloren wie jemand, der plötzlich den Gebrauch seiner Gliedmaßen einbüßt.
Scheinbar brauchte ich größere Zeitabschnitte in ungestörter Stille und Berührung mit der Natur. Nur in solcher Umgebung fühlte ich mich heimisch und eingebunden in den Lebensstrom. Also packte ich meine Campingausrüstung und fuhr in die hohen Sierras, wo ich fünf Monate kampierte, bis der Schnee kam und ich wieder hinunter mußte.
Ich fuhr ins Gebirge, um eine neue Art Existenz zu lernen, eine Existenz ohne Zeit, ohne Denken, ohne die Emotionen, Gefühle und Energien des Selbst. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie das gehen konnte. Ich wußte nur, daß ich aufbrechen und es herausfinden mußte. Entdeckungen und Abenteuer gab es viele, über die so manches zu sagen wäre, doch ich glaube, ich kann es in einem Satz zusammenfassen: Bis zu dem Aufenthalt im Gebirge hatte ich nie wirklich gelebt. Nicht einen einzigen Tag in meinem Leben vorher hatte ich jemals gelebt. Ohne jeden Zweifel befand ich mich nun im Großen Strom, und jede Vorstellung von Ekstase, Glückseligkeit, Liebe und Freude verblaßt angesichts der außerordentlichen Einfachheit, Klarheit und Ganzheit einer solchen Existenz.
Das Leben im Walde hat nichts Willkürliches, Untätiges oder Sorgloses an sich. Im Gegenteil, alles ist dort lebendig, völlig wach, dynamisch und intelligent. Es ist kein freies Leben. Der Große Strom nimmt seinen Lauf und schwemmt alles mit. Ob es will oder nicht, ist ohne Belang. Man kann sich nicht Zeit nehmen, um aus dem Fluß auszusteigen und zu verschnaufen. Anders gesagt: Es ist ein Leben ohne auch nur eine einzige Belanglosigkeit.
Eines der großen Mysterien, das ich in dieser Bergeinsamkeit zu lösen hoffte, war die Antwort