Bernadette Roberts
Jenseits von Ego und Selbst
WIDMUNG
Den Kontemplativen Wahrheitssuchern in Ost und Westinsbesondere den Bewohnern der spirituellen Berge Karmelund New Camaldoli
Bernadette Roberts
Jenseits von
Ego und Selbst
Erfahrungsbericht einer spirituellen Reise
Titel der Originalausgabe
The experience of no-self
Übersetzung aus dem Amerikanischen:
Franz Loschnigg und Karin Hein
Bearbeitung: Lienhard Valentin
Titelfoto: Shai Ginott
© 1993 Bernadette Roberts
Alle Rechte vorbehalten
E-Book 2018
Published by arrangement with State University of New York Press
© der deutschen Ausgabe: 1997, Arbor Verlag, Freiamt alle Rechte vorbehalten
Hergestellt von mediengenossen.de
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-222-1
Inhalt
Einleitung
Der Weg – Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kompendium der Reise
Geistige Stille
Zweiter Teil – Nähere Betrachtungen
Fragen und Kommentare
Wo bleibt Christus?
Das Selbst
Zum Schluß
Anmerkungen
Einleitung
Dies ist der persönliche Bericht einer zweijährigen spirituellen Reise, in deren Verlauf ich das Abfallen all dessen erlebte, was man als Selbst bezeichnen könnte. Der Weg führte durch einen unbekannten Durchlaß in ein so andersartiges und neues Dasein, das ich trotz vierzig Jahren diverser kontemplativer Erfahrungen niemals für möglich gehalten hätte. Die Erfahrung eines Seins ohne Selbst, die so jenseits all meiner Erwartungen lag, blieb mir völlig unbegreiflich und paßte in kein mir bekanntes Bezugssystem. Obwohl ich in Bibliotheken und Buchläden stöberte, fand ich nirgends eine Erklärung oder Darstellung eines ähnlichen Geschehens, was mir damals sehr geholfen hätte. Den vorliegenden Bericht schrieb ich in Anbetracht des Mangels an schriftlichen Darstellungen und in der Hoffnung, daß er jenen nützen möge, deren Bestimmung eine ebensolche Reise über das Selbst hinaus bereithält.
Meine inneren Erfahrungen reichen bis ins frühe Kindesalter zurück, doch erst mit fünfzehn entdeckte ich, daß sie sich wie-Teile eines Puzzles in den größeren Rahmen der christlich-kontemplativen Tradition einfügen. Dieser Entdeckung folgten zehn Jahre relativer Abgeschiedenheit, im Streben nach dem christlichen Ideal der Vereinigung mit Gott. Als ich gewiß war, dieses Ziel erreicht zu haben, trat ich in ein üblicheres Leben ein, in dem ich mich bis heute befinde.
Das christliche Ideal der Selbstaufgabe wird traditionell als Umwandlung oder Verlust des Ego (des niederen Selbst) gesehen, das zum höheren oder wahren Selbst in seinem Einssein mit Gott gelangt. In diesem Einssein behält das Selbst jedoch seine individuelle Einmaligkeit und verliert ontologisch nie sein eigenständiges Selbstsein. Daß ich mich selbst verloren hatte, bedeutete zugleich, mich als Teilhaber am göttlichen Leben in Gott wiederzufinden. Von da an ist das Grundgefühl von Sein und Leben gleichermaßen das Gefühl von Gottes Sein und Leben – nicht länger habe ich das Gefühl von „meinem“ Leben, sondern von „unserem“ Leben – Gott und Selbst. In diesem bleibenden Zustand ist Gott als stiller Ruhepol im Mittelpunkt des Seins der spirituellen Betrachtung stets zugänglich – das ist der Punkt, an dem das Selbstsein entspringt und in dem es zuweilen verschwindet. Dieses letztere Verlieren des Selbst ist jedoch kein Dauerzustand, sondern nur vorübergehend. Es war mir auch nie in den Sinn gekommen, daß das in diesem Leben jemals möglich wäre.
Vor der besagten inneren Reise schenkte ich dem Selbst, seiner Tragweite und seinen Definitionen wenig Beachtung. Das Selbst war für mich einfach die Gesamtheit des Seins, Körper und Seele, Denken und Fühlen, eines Seins zentriert in Gott als seiner Kraftachse und seinem Ruhepunkt. Da das Selbst im tiefsten Innern auf das Göttliche trifft, fand ich nie ein wahres Selbst ohne Gott – wo wir den Einen finden, findet sich auch das andere.
Soweit reichten meine Erwartungen, daher war ich umso überraschter und verwirrter, als ich viele Jahre später in einen Dauerzustand geriet, in dem kein Selbst da war, kein höheres oder wahres Selbst noch sonst etwas, das man Selbst nennen könnte. Offensichtlich war ich aus jedem Bezugsrahmen gefallen, aus meinem eigenen wie auch dem der Tradition, als ich auf einen Weg stieß, der dort anzufangen schien, wo die Beschreibungen der vita contemplativa abbrechen. Doch aus der eindeutigen Gewißheit, daß das Selbst verschwunden war, ergab sich automatisch die Frage, was da weggefallen war – was war das Selbst? Was genau war es gewesen? Und am allerwichtigsten: was bleibt, wenn das Selbst weg ist? Die hier geschilderte spirituelle Reise enthüllt schrittweise die Antworten auf diese Fragen, die sich einzig und allein aus der persönlichen Erfahrung ergaben, da sich von außen keine Erklärung anbot.
Mit Ausnahme des wenigen, das ich bei Meister Eckhart fand, stand ich mit meiner Erfahrung ratlos da, und in den Werken östlicher Traditionen, die in meiner Umgebung verfügbar waren, begegnete ich dem gleichen Mangel an Erklärungen. Obwohl die buddhistische Vorstellung der Selbstlosigkeit, vom „Nicht-Selbst“ mir sehr wahr zu sein schien, fehlte jede Ewähnung, wie wir zuvor der Ganzheit des Selbst in seiner Vereinigung mit Gott begegnen, und so blieb die christliche Erfahrung der Selbsthingabe natürlich ungeklärt. Gut möglich, daß, je intensiver jemand zuerst das Einssein erfährt, ihm sein Wegfallen umso unerklärlicher und bestürzender erscheinen muß. Erst wenn dieser Übergang hinter uns liegt und wir uns an das neue Dasein gewöhnt haben, verschwindet der relative Unterschied zwischen Selbst und Nicht-Selbst aus unserer Reichweite. Doch dann haben wir auch schon gesehen, wo der Weg langgeht, und brauchen keine Erklärungen mehr.
Als ich erkennen mußte, wie allein ich war in dieser Kluft zwischen dem höchsten christlichen Ideal des Selbstverlustes und der unmittelbaren Erfahrung, zog ich meine eigenen Schlüsse. Vor allem bin ich überzeugt, daß das innere Leben aus zwei verschiedenen und separaten Entwicklungen besteht, denen ganz bestimmte, typische Erfahrungen entsprechen. Die erste von beiden ist die Bewegung auf die Vereinigung mit Gott zu, die mit dem psychologischen Integrationsgeschehen parallel zu laufen scheint. Ihre Schwerpunkte sind innere Prüfungen und dunkle Nächte, die das Selbst festigen im permanenten Einssein mit Gott, dem Ruhepunkt und der Achse seines Seins. Hier erkennen wir, daß das Selbst nicht verlorengeht, sondern sich vielmehr als neues Selbst entpuppt, das aus der tiefsten, innersten göttlichen Mitte heraus lebt.
Auf diese erste Bewegung folgt ein zeitlicher Zwischenraum (zwanzig Jahre in meinem Falle), während dem das Einssein einer Reihe von äußeren (nicht inneren) Prüfungen unterzogen wird, bis sich die Einheit zutiefst in ihrer Beständigkeit und Festigkeit bewährt und allen Kräften standhält, die an ihrem Kern rütteln, sie zersetzen oder stören wollen. In dieser Periode entdecken wir auch die Schönheit und das Wundersame an diesem Geschenk der Einheit – und vor allem