Spannung, psychologische und soziologische Tiefenschärfe sowie moralische Sinnstiftung – die Kriminalgeschichten der Bibel haben in diesen Punkten nicht weniger zu bieten als die Krimis unserer Tage. Auch wenn nicht jede von ihnen alle diese Ansprüche gleichermaßen erfüllt, lohnt sich ihre Lektüre auch mehr als 2000 Jahre nach ihrer Entstehung. Allein die große Anzahl biblischer Geschichten, in denen Verbrechen begangen und aufgeklärt werden, müsste Krimifreunde aufmerken lassen. Die vorliegende Auswahl von 25 Texten deckt das Feld noch keineswegs vollständig ab. Vom kleinen Eigentumsdelikt bis hin zum staatlich geplanten Massenmord reicht die Bandbreite der erzählten Vergehen, von Gier über Eifersucht und Hass bis zum politischen Kalkül die Liste der Tatmotive. Könige finden sich ebenso unter den Tätern wie Straßenräuber, schutzlose Frauen gehören genauso zu den Opfern wie eifrige Propheten. Streckenweise liest sich die Bibel fast wie eine Kriminalgeschichte der Menschheit.
Um Tathergang und Identität des Täters machen die biblischen Geschichten im Unterschied zu vielen Krimis unserer Tage meist kein Geheimnis. Oft sehen wir selber lesend zu, wie das Verbrechen begangen wird. Die kriminalistische Spannung der Erzählungen speist sich dann vor allem aus der Frage, ob und wie der Täter entdeckt und durch wen er zur Rechenschaft gezogen wird. In zahlreichen Fällen nimmt Gott selbst oder ein von ihm Beauftragter die Ermittlungen auf. Vielfältig und ausgefallen sind die Methoden, die dabei zum Einsatz kommen. Die für den Krimi typische Höchstleistung des Kommissars steigert sich teilweise bis in den Bereich des Wunderbaren.
Woher kommt das »kriminalistische« Engagement Gottes, das diese Geschichten erkennen lassen? Nach dem Zeugnis der Bibel entspringt es vor allem seinem Gerechtigkeitssinn. Gott fühlt sich durch das von Menschen begangene Unrecht persönlich herausgefordert und zum Eingreifen gedrängt. Denn schließlich ist jedes Verbrechen auch ein Aufstand gegen den, der den Menschen das Leben geschenkt und ihnen Regeln für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben gegeben hat. Die kriminelle Untat bedeutet deshalb immer auch ein Vergehen gegen Gott. Im Kern spiegelt sich somit in jedem Kriminalfall jener erste Fall wider, der die Menschen das Paradies gekostet hat: der Sündenfall.
Um seiner selbst willen wie um der Opfer willen kann Gott das Unrecht nicht einfach ignorieren. Dennoch werden in der Bibel nicht alle Verbrechen sofort durch ihn gesühnt. Manchmal wird der Täter gar nicht ermittelt, manchmal verzichtet Gott bewusst auf die Strafverfolgung und lässt den Dingen ihren Lauf. Das hängt dann meist mit seinen weiter gehenden Plänen zusammen. Trotzdem ist es in den Kriminalgeschichten der Bibel Gott, der in allem kriminellen Chaos die Aufrechterhaltung von Ordnung verbürgt und sichert. Er kommt noch dem raffiniertesten Verbrecher auf die Schliche, vor seinem plötzlichen Zugriff ist kein Täter sicher. Damit stärkt die Bibel im Unterschied zu vielen heutigen Krimis das Vertrauen in einen endlichen Sieg des Guten und der Gerechtigkeit nicht einfach durch den glücklichen Ausgang ihrer Kriminalgeschichten, sondern indem sie mit diesen Geschichten auf die Macht und das heilschaffende Wirken Gottes verweist. Dies gilt auch dort, wo sich Gottes Handeln nicht unmittelbar in der Ahndung eines Verbrechens zeigt, sondern wo er dem Bösen Raum und Zeit lässt. Auch mit diesen Geschichten will die Bibel letztlich das Vertrauen stärken, dass Gott die Welt trotz aller menschlichen Untaten nicht im Stich lässt, sondern den endzeitlichen Sieg des Guten und der Gerechtigkeit garantiert.
Der Graben, der uns wegen Veränderungen in gesellschaftlichen Verhältnissen, religiösen Bräuchen, moralischen Vorstellungen und rechtlichen Bestimmungen von den biblischen Kriminalgeschichten trennt, ist also kleiner, als es zunächst scheinen mag. Nicht nur, dass sie uns als spannende Krimis unmittelbar ansprechen; als Erzählungen von Schuld und Sühne, von menschlichem Vergehen und göttlicher Gerechtigkeit behandeln sie auch Grundfragen unseres Daseins. Zum einfacheren Verständnis können einige Hintergrundinformationen hilfreich sein, die jeweils innerhalb der kurzen Einleitungen zu den folgenden Bibeltexten gegeben werden. Wenn durch sie das unmittelbare Verstehen der Situation erleichtert ist, können Handlung, Personal und Pointen ihren Reiz umso direkter entfalten. Der theologische Gehalt der Geschichten erlaubt es dann, dass man beim Lesen nicht nur einem Verbrechen, sondern zugleich sich selbst auf die Spur kommt, dass man nicht nur einen Fall löst, sondern auch den eigenen Fall entdeckt. Deshalb können Menschen, die als Leserinnen oder Leser von Kriminalgeschichten zwangsläufig auf der Suche nach Klarheit und Sinn sind, in diesen Geschichten auch Sinn und Orientierung für ihr eigenes Leben finden.
Am Anfang stand ein Mord
Kain und Abel
Am Anfang der Menschheitsgeschichte steht nach dem Zeugnis der Bibel ein Mord; schlimmer noch: ein Brudermord. Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Wie es dazu kommt, wird nur mit ganz wenigen Sätzen erzählt. Am Motiv bleibt trotzdem kein Zweifel: Eifersucht. Obwohl die Tat zunächst wie eine Handlung im Affekt aussieht, ist sie in Wahrheit ein genau geplantes Verbrechen. Kain lockt Abel gezielt an einen Ort, wo er ihn ohne Zeugen umbringen kann. Damit geht es in diesem Fall nicht nur um Totschlag, sondern um Mord, vorsätzlich und mit Bedacht ausgeführt.
Dass in der Bibel schon das erste Bruderpaar der Menschheit auf diese Weise ein Opfer der Gewalt wird, lässt tief blicken. Es zeigt, dass der Mensch von Anfang an und also von seiner Natur her in der Gefahr steht, das Zusammenleben mit seinem Nächsten gewaltsam zu stören und zu zerstören. Diese Gefahr hängt wie ein Schwert am seidenen Faden über jeder menschlichen Beziehung, weil der Mensch zum Bösen fähig ist und es nicht immer schafft, der Verführung zum Verbrechen zu widerstehen. Untaten wie den von Kain verübten Brudermord will die Geschichte damit keineswegs entschuldigen. Sie will sie vielmehr als eine menschliche Realität vor Augen führen, mit der man rechnen und auf die man reagieren muss.
Wie der Fortgang der Geschichte zeigt, gilt das auch für Gott. Auch er muss sich mit diesem Verbrechen auseinandersetzen, auch seine Reaktion ist gefragt. Nach dem Verschwinden Abels tritt er als Ermittler auf den Plan und löst den Fall im Handumdrehen. Im Anschluss an ein extrem kurzes Verhör sagt er dem Täter den Mord auf den Kopf zu.
Die Geschichte von Kain und Abel ist also eine Art Kurzkrimi, in dem Tatmotiv, Tatvorbereitung, Tatausführung, Täterverfolgung und Täterermittlung nur in äußerster Knappheit geschildert werden, die aber zugleich im Brudermord als »Urverbrechen« der Menschheit die ganze Geschichte menschlicher Kriminalität zusammenfasst. Dass Gott in diesem Fall selbst die Strafverfolgung übernimmt, ist keineswegs ein Zufall. Als Schöpfer allen Lebens ist er vielmehr durch den Mord an Abel direkt mit getroffen, denn das Leben, das er Abel geschenkt hatte, wurde durch Kain mutwillig ausgelöscht.
Selbst noch in seiner Strafe für Kain erweist sich Gott als Anwalt des Lebens – nicht nur, weil er diesem sein Leben belässt, sondern auch, weil er ihn zusätzlich durch ein besonderes Zeichen vor der Tötung durch andere bewahrt. Ohne den Schutz einer Gemeinschaft hätte diese ihm sonst sofort gedroht. Nicht Rache und Vergeltung sind also der Maßstab für Gottes Strafe, sondern der Schutz des Lebens, selbst noch des Mörders.
Aus heutiger Sicht mag man vielleicht das Recht auch dieser Strafe noch in Frage stellen und mildernde Umstände für Kain geltend machen. Immerhin ist er selbst das Opfer einer verletzenden Ungleichbehandlung durch Gott geworden. Warum reagierte Gott auch so unterschiedlich auf die Opfer der beiden Brüder? – Die biblische Geschichte gibt auf diese Frage keine Antwort. Sie lässt sie aber auch nicht als Ausrede für Kain gelten. Ihr geht es um das Faktum des Verbrechens. Dieses darf nicht folgenlos bleiben, und deshalb schaltet sich Gott selbst in den Fall ein, nachdem er Kain zuvor schon gewarnt hatte. Die Geschichte als ganze zeigt: Auch wenn Gottes Warnungen fruchtlos bleiben, auch wenn es dem Menschen nicht gelingt, Herr über die Sünde zu sein, bleibt Gott doch der Herr des menschlichen