Es gibt also individuell unterschiedliche Veranlagungen für Depressionen, die sich genetisch bedingen, aber auch auf dem Boden schlimmer Kindheitserfahrungen entwickeln können. Es kommt zu Depressionen, wenn ein Mensch nun mit extremen Erfahrungen oder Situationen konfrontiert wird, die ihm arg zu schaffen machen, und er den Eindruck hat, damit nicht umgehen zu können. Und wenn kein tragfähiges soziales Netz besteht. Kann man das so sagen?
Das ist fast korrekt. Wenn auch mit dem Hinweis, dass es sich dabei um eine stark vereinfachte Zusammenfassung handelt. Nicht einverstanden bin ich mit der Aussage, dass es unter diesen Umständen zwangsläufig zu einer Depression kommt. Es kann sich eine Depression auf diesem Boden entwickeln. Das kommt der Realität näher.
Das sind wirklich komplexe Zusammenhänge. Um wirklich sicherzugehen: Können Sie die aktuellen Erkenntnisse zu den möglichen Ursachen der Depression noch mal in Ihren Worten zusammenfassen?
Depressionen haben keine einfachen Ursachen, sondern entstehen aus sich gegenseitig bedingenden Aspekten. Die genetische Veranlagung und prägende Kindheitserlebnisse können eine Rolle spielen. Ebenso körperliche Erkrankungen und belastende Lebensereignisse. Diese vier Faktoren wirken bei jedem Menschen individuell unterschiedlich ausgeprägt. In ungünstigen Fällen treffen aufgestaute Auslöser auf eine niedrige Depressionsschwelle. Dann können schon für andere Menschen unbedeutende Alltagserlebnisse eine Depression auslösen. Und wiederum andere Menschen bleiben trotz schwerster Schicksalsschläge relativ stabil.
Auch wenn es immer wieder zu beobachten ist, dass Depressionen in manchen Familien gehäuft auftreten, gehen Experten davon aus, dass es die angeborene Depression nicht gibt. Allerdings gibt es genetische Besonderheiten, die vor einer Depression schützen oder sie begünstigen können. Diese jeweilige Veranlagung kann die Depressionsschwelle senken – für die Depression selbst ist sie aber nicht verantwortlich.
Vergleichbar wirken entwicklungshemmende Erfahrungen in der Kindheit wie Verlust, Gewalt, Überforderung oder Vernachlässigung. Diese Belastungssituationen führen zu Dauerstress und schädigen durch die permanente Ausschüttung von Stresshormonen das in der Entwicklung befindliche kindliche Gehirn. Die Fachliteratur spricht von einer biologischen Narbe, die so entsteht. Im Erwachsenenalter reichen verhältnismäßig leichte Stressoren, um bei speziellen Themen den Stresspegel rapide anschwellen zu lassen und zu depressiven Symptomen zu führen. Diese Mechanismen erklären auch, warum der eine Mensch auf eine belastende Situation mit intensivem Stress reagiert, der andere aber gelassen bleibt.
Doch alle bislang skizzierten Ursachenfragmente wirken nicht für sich allein, sondern brauchen einen Auslöser, um die Dynamik von Depression in Gang zu setzen. Auslöser können körperliche Vorgänge sein oder belastend wirkende Lebensereignisse. Zum Beispiel Arbeitsplatzverlust, Scheidung, Tod eines nahen Angehörigen, schwere Erkrankungen oder Unfälle sowie chronische Belastungen wie die Pflege eines Angehörigen, besonders bei Demenz. Oder Dauerstress im Job. Lang anhaltende zwischenmenschliche Konflikte zählen ebenso dazu.
Auch bis dato völlig gesunde Menschen können bei einer entsprechend kritischen Situation mit einer depressiven Verstimmung reagieren. Ausschlaggebend sind neben der Schwere des Ereignisses die individuellen Verarbeitungs- und Bewältigungsmöglichkeiten des Einzelnen. Und das vor dem Hintergrund, inwiefern Dauerstress die körperlichen und psychischen Kräfte bereits aufgezehrt hat.
Nur der Vollständigkeit halber. Gibt es weitere mögliche Ursachen für depressives Erleben?
Ganz konkrete sogar. Depressives Erleben kann sich begleitend zu psychischen Erkrankungen entwickeln, zum Beispiel Sucht, Angst, Panik, Phobien, Zwangserkrankungen oder Essstörungen. Ebenfalls zu beobachten sind Depressionen als Folge eines chronischen Schmerzleidens oder einer schwerwiegenden körperlichen Krankheit wie Krebs, Aids, Schlaganfall, Durchblutungsstörungen im Gehirn und vielen weiteren mehr. Ein gestörter Stoffwechsel, ein entgleister Hormonhaushalt, ein Ungleichgewicht der Darmmikrobiota oder Funktionsstörungen der Schilddrüse können ebenfalls Ursache beziehungsweise daran beteiligt sein.
Sie haben nun schon zweimal das Stichwort »Darm« genannt. Können Depressionen auch im Darm beginnen?
Unser Darm ist ein erstaunliches Organ, das von geschätzt hundert Billionen Bakterien besiedelt sein soll. Neuere Forschungen verfolgen die Idee, dass ein Ungleichgewicht dieser Darmmikrobiota mit einem Zuviel oder Zuwenig an bestimmten Bakterien die Entwicklung von Depression beeinflussen kann. »Darmmikrobiota« ist übrigens die korrekte Bezeichnung anstelle von »Darmflora«.
Aber es heißt doch immer, Depression findet im Kopf statt?
Der Darm und das Gehirn stehen in direkter nervlicher Verbindung. Die Bakterien im Darm produzieren Botenstoffe, die den sogenannten Vagusnerv aktivieren. Über diesen Nerv sendet der Darm Impulse an das Gehirn und umgekehrt. Im Gehirn findet dann die weitere nervliche Verarbeitung auf Grundlage von Physik und Biochemie statt. In der Wissenschaft wird inzwischen vom »Bauchgehirn« als zweitem eigenständigen Gehirn neben dem Kopfgehirn gesprochen. Immerhin verfügt dieses Bauchgehirn über geschätzt hundert Millionen Nervenzellen.
Dann haben Redewendungen wie »Das ist mir auf den Magen geschlagen« also einen viel tieferen Sinn als angenommen?
Exakt. Unsere psychische Verfassung hat im Bauch beziehungsweise Darm oft seinen nervlichen Ursprung und wird über Nervenimpulse, Hormone und auch über das Immunsystem transportiert und im Kopf weiterverarbeitet. Manche Forscher sind sogar der Ansicht, dass das Kopfgehirn bis zu neunzig Prozent seiner Impulse aus der Bauchregion erhält.
Ein anderes angesprochenes Thema: Wie hängen Sucht und die Entwicklung von Depression zusammen?
Depression und Sucht gehen häufig Hand in Hand. Aber oft kann nicht genau festgestellt werden, was zuerst da war: die Sucht oder die Depression.
Zwei unterschiedliche Szenarien sind vorstellbar. Erstens: Depressionstypische Symptome wie Unruhe, Angst oder Panik werden mit Alkohol oder auch Medikamenten gedämpft beziehungsweise per Eigenmedikation selbst behandelt. Das klappt anfangs gut, allerdings muss die Dosis stetig erhöht werden. Daraus kann eine psychische und/oder körperliche Abhängigkeit entstehen. Möglichkeit Nummer zwei: Es besteht eine Abhängigkeit, was als emotional stark belastend erlebt und nicht akzeptiert werden kann, woraus sich möglicherweise eine Depression entwickelt.
Die konkrete Behandlung zielt bei der Kombination von Depression und Sucht oft erst auf Entgiftung und Abstinenz. Erst dann können die vorhandenen Symptome genau angeschaut werden. Andererseits ist zu beachten, dass die Sucht durchaus auch als Schutz eingesetzt wird, um besonders belastende Dinge, für die es scheinbar keine Bewältigungsmechanismen zu geben scheint, nicht an sich herankommen lassen zu müssen.
Gilt das auch für Medikamente?
Sofern das Medikament süchtig machen kann, ja. Beruhigungsmittel, die sogenannten Benzodiazepine, gehören dazu und dürfen kontinuierlich nur wenige Wochen eingenommen werden. Darüber hinaus können einige Medikamente als Nebenwirkung Depressionen auslösen. Das sind meist Präparate, die sich auf den Gehirnstoffwechsel oder den Hormonhaushalt auswirken wie manche Herz-Kreislauf-Mittel, Blutdrucksenker, die Pille oder Antibiotika. Nach Absetzen des Medikaments bilden sich diese Depressionen aber vollkommen zurück.
Schildern Sie doch bitte, was auf dem Weg in die Depression und während ihres Verlaufs konkret mit dem betroffenen Menschen geschieht.
Dies ist auf körperlichen und psychischen Ebenen vielfältig miteinander verzahnt. Es gibt biologisch orientierte Forschungen, die sich mit Botenstoffen im Gehirn und im Darm sowie dem Hormonhaushalt beschäftigen. Und es gibt den Blickwinkel, der das Zustandekommen und den Erhalt depressiven Erlebens als gelerntes Verhalten betrachtet. Jeder dieser Ansätze hat eine eigene Logik. Ich möchte aber noch mal betonen, dass diese beiden Ebenen im weiteren Verlauf depressiven Empfindens kaum noch voneinander getrennt werden können, weil körperliche Vorgänge und eine veränderte Art, zu denken und sich zu verhalten,