Eine Annäherung an die Ursachen von Depression
Eine Frage mit der Bitte um eine kurze und präzise Antwort: Welche Ursachen haben Depressionen?
Diese Frage steht anfangs oft im Mittelpunkt, wenn wir mit der Erkrankung Depression konfrontiert sind. Das ist nachvollziehbar, weil der Zustand von Depression so schwer zu fassen ist und wir uns Klarheit und Sicherheit wünschen. Dennoch möchte ich nicht gleich darauf antworten.
Warum nicht?
In erster Linie ist eine Depression da, und sie will behandelt werden. Der Mensch, der unter den depressiven Symptomen leidet, braucht Hilfe und Unterstützung. Anfangs zu isoliert auf die Ursachen depressiven Erlebens zu schauen lenkt von dem ab, was in der konkreten Situation akut gebraucht wird.
Nämlich?
Verständnis, Einfühlungsvermögen und fachkundige Begleitung sowie die sensible, aber beharrliche Ermunterung, aktiv am Genesungsprozess teilzuhaben, so gut es geht. Stellen Sie sich vor, Sie machen eine Kreuzfahrt, und ein Passagier fällt über Bord: Erforschen Sie als Erstes, wie es dazu kommen konnte, ob die Reling zu niedrig war oder ob sich der Mitreisende fahrlässig verhalten hat? Oder werfen Sie ihm möglichst rasch einen Rettungsring zu?
Ein interessantes Bild. Aber es ist Ihnen schon bewusst, dass Sie sich um eine klare Antwort drücken, oder?
Willkommen in der Welt der Depression. Klare Antworten und einheitliche Regeln gelten hier nicht. Dafür ist das Wesen des depressiven Erlebens und Empfindens viel zu individuell und komplex. Das gilt auch für die möglichen Ursachen.
Dann auf der theoretischen Ebene: Können Sie uns sagen, welche Ursachen Depressionen häufig haben?
Man weiß es nicht genau.
Wie bitte?
Sie baten eingangs um eine kurze Antwort. Und um eine präzise. Doch lassen Sie mich zielgerichteter antworten: Um das Phänomen der Depression ranken sich nach wie vor viele Vermutungen und Mutmaßungen. Ist sie erblich? Ist es ein organisches Problem? Oder spielen aktuelle und als belastend eingestufte Lebensereignisse die Hauptrolle? Die Wahrheit liegt nach aktuellem Wissensstand bei einem Sowohl-als-auch. Organische und psychische Vorgänge gehen Hand in Hand und können schon nach kurzer Zeit kaum noch voneinander getrennt beobachtet werden. Genetische Besonderheiten und prägende Kindheitserlebnisse zum Beispiel können die Schwelle für Erschöpfungszustände und Depression senken, hinzu kommt aber immer ein Auslöser wie eine körperliche Erkrankung, ein hormonelles Ungleichgewicht oder ein als belastend eingestuftes Lebensereignis. Bei diesen Ereignissen geht es meist um die Themen »Verlust«, »Misserfolg«, »Überforderung« und »Ausweglosigkeit«. Dauerstress ist auffällig häufig beteiligt. Als Ursache oder Folge verändert sich die Biochemie des Organismus und kann zu einem Ungleichgewicht der Stoffwechselvorgänge im Gehirn, im Darm sowie auf hormoneller Ebene führen. Das hat Einfluss auf die Arbeitsweise unserer Nervensysteme, besonders im Gehirn. Und das wiederum kann depressives Empfinden auslösen oder es vertiefen. Ob Depression in erster Linie eine organische, psychische oder soziale Störung ist, wird noch immer kontrovers diskutiert, ein behandlungsbedürftiger Zustand ist sie auf jeden Fall. Wichtig ist, dass wir unterscheiden lernen, was depressive Symptome verursachen kann, was sie auslösen kann und, vor allem, was sie aufrechterhält. Auf dieser dritten Ebene liegen unsere größten Einflussmöglichkeiten.
Die Depression ist also ein komplexes Geschehen mit verschiedenen Ursachen, Auslösern und Ausdrucksformen?
Nach dem heutigen Stand des Verstehens kann sich depressives Erleben aus biologischen, psychischen oder sozialen Gründen entwickeln. Deshalb wird dieses Ursachenmodell »bio-psycho-sozial« genannt. Es gibt innere und äußere Aspekte, die eng miteinander verzahnt sind und die sich in einer Art Wechselspiel gegenseitig fördern. Dabei bleibt meist unklar, was konkret Ursache, Auslöser und Folge ist.
Depression ausschließlich als Folge eines belastend erlebten Auslösers zu sehen greift also ebenso zu kurz wie die rein biologische Sichtweise, die Depression zum Beispiel allein als Folge eines aus dem Gleichgewicht geratenen Stoffwechsels im Gehirn versteht, auch wenn solche körperlichen Vorgängen im weiteren Verlauf eine Rolle zu spielen scheinen.
Doch selbst wenn es zu besonderen Lebensereignissen kommt oder zu einem biologischen Ungleichgewicht, scheinen manche Menschen über stabile innere und äußere Rahmenbedingungen zu verfügen, die ein depressives Erleben weniger nötig machen.
Wie sehen diese stabilisierenden Faktoren aus?
Positive äußere Rahmenbedingungen sind zum Beispiel Wertschätzung im Beruf und im Privatleben – und ein als tragfähig erlebtes soziales Netz mit wohltuenden Freundschaften, einem angenehmen Kollegenkreis und/oder einer funktionierenden Partnerschaft. Wichtig für die psychische Gesundheit scheint es zu sein, dass das soziale Netz im Ganzen eher positiv bewertet wird, statt dass es Probleme bereitet.
Also im Umkehrschluss der zwischenmenschliche Konflikt als Stressauslöser?
Und Auslöser für depressive Verstimmungen, wenn diese zwischenmenschlichen Konflikte dauerhaft zu heftig sind und die Betroffenen nicht das Gefühl haben, mit dieser schwierigen Situation angemessen umgehen zu können. Sprich, dass ihnen die geeigneten Bewältigungsstrategien fehlen. Das sind ungünstige innere Faktoren für psychische Gesundheit.
Und erneut der Umkehrschluss: Was wären förderliche innere Faktoren für psychische Gesundheit?
Ein gesundes Urvertrauen, ein stabiles Selbstbild sowie die Fähigkeit, Dinge und Menschen akzeptieren zu können, obwohl sie nicht eins zu eins in die gerade aktuelle Weltanschauung passen – das sind Beispiele für stabile innere Faktoren. Ebenso ein guter Kontakt zu sich selbst und seinen Bedürfnissen. Die Fähigkeit des Loslassenkönnens scheint ebenfalls von großer Bedeutung zu sein.
»Du musst nur loslassen, dann ist alles gut« … das hört sich nach Ponyhof an. Das Leben ist aber oft komplizierter.
Auf jeden Fall ist es differenzierter. Die schöne heile Kindheitswelt, die allein aus förderlichen, liebevollen und behüteten Momenten besteht, ist für die meisten von uns tatsächlich Wunschdenken. Das heißt aber nicht, dass jeder Mensch eine schlimme Kindheit hatte, die im Erwachsenenalter mühevoll aufgearbeitet werden muss. Belastende Situationen, emotionale Verletzungen und Erfahrungen von Verlust gehören zum Leben dazu. Sie sind das Leben. Genauso wie die glücklichen Momente. Aber manche Menschen erwischt es schwerer. Deren Rahmenbedingungen machen sie verletzlicher und anfälliger für die Entwicklung depressiven Erlebens.
Was führt zu solch einer Verletzlichkeit für Depression?
Diese Verletzlichkeit für depressives Erleben kann an traumatische Kindheitserfahrungen gekoppelt sein. Hatte ein Mensch in jungen Jahren sehr belastende Erlebnisse, kann dies verhindern oder zumindest erschweren, dass sich ein stabiles Selbstwertgefühl entwickelt. Mit konkreten Auswirkungen für das Thema »Depression«, weil meist wenig Vertrauen besteht, mit schwierigen Situationen umgehen zu können. Dies hat schon früher im Leben nicht geklappt, warum sollte es künftig funktionieren? Die Überzeugung, dass keine geeigneten Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen, wirkt sich direkt auf die Art des Denkens aus und mündet in einer negativen Sicht auf sich selbst und seine eigenen Möglichkeiten, auf die Welt und die Zukunft. Man könnte auch sagen: Ein derart geprägter Mensch ist dem Leben gegenüber grundsätzlich pessimistisch eingestellt. Ungesunde Denkmuster und Verhaltensweisen sind infolge dieser Anschauung erlernt.
Gibt es auch rein körperliche beziehungsweise organische Gründe, die einen Menschen anfälliger für Depressionen machen?
Es gibt genetische Einflussfaktoren, die eine Rolle zu spielen scheinen. Darauf möchte ich später noch eingehen. Auch diese rein körperlichen Voraussetzungen entscheiden über das Ausmaß der Verletzlichkeit für depressives Erleben.