Aus Sicht der Interpersonellen Neurobiologie ist Aufmerksamkeit das „Skalpell“, durch das sich neuronale Pfade umgestalten lassen: Aufmerksamkeit wirkt für einen Kliniker oder Lehrer so wie das Skalpell für einen Chirurgen. Durch fokale Aufmerksamkeit können Menschen darin bestärkt werden, ihre neuronalen Neigungen, die als Reaktion auf das Trauma entstanden sind, in neue Zustände integrativer Aktivierung zu verwandeln. Kinder, deren Lehrer ihre Vorstellungskraft nutzen und sie inspirieren, aufmerksam zu sein, werden in der Lage sein, zu lernen und ein Gerüst des Wissens über sich selbst und die Welt auszubilden. Aufmerksamkeit ist die Triebkraft für Veränderung und Wachstum.
Aufmerksamkeit ist der Prozess, der den Energie- und Informationsfluss reguliert. Auf diese Weise ist es nicht das, was der Geist „tut“, sondern was der Geist „ist“. Aufmerksamkeit steht beispielsweise bei Menschen, die ein Trauma erfahren haben, im Zentrum der Symptome, durch die sich ihr Leiden manifestiert. Eine gesteigerte Wachsamkeit für subtile Stimuli, die jemanden an ein schmerzvolles Ereignis in der Vergangenheit erinnern, zeigt, wie die Aufmerksamkeit vom Trauma in Besitz genommen (versklavt) wurde. Betäubung ist eine Möglichkeit, wie fokale Aufmerksamkeit – Aufmerksamkeit mit Gewahrsein – blockiert wird, so dass Signale des Körpers nicht mehr wahrgenommen werden können. Die Aufmerksamkeit wird vom Trauma gebunden.
Wie steht dies mit der Integration in Verbindung? Wenn bei einem Menschen Chaos* oder Erstarrung* festgestellt wird, kann der Bereich des Lebens, in dem die Integration behindert ist, in den Mittelpunkt der klinischen Intervention gestellt werden. Zu einer Intervention gehört die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf weniger entwickelte Bereiche, damit sie differenzierter* werden. Als Nächstes werden dann die getrennten Bereiche durch die gleichzeitige Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Prozesse, die aus diesen differenzierten Bereichen entstehen, miteinander verknüpft. Die Kernaussage des Satzes, „Neuronen, die zusammen aktiviert werden, vernetzen sich*“, besteht darin, dass die Muster der neuronalen Aktivierung* sich aufgrund des Fokus der Aufmerksamkeit verändern. Dort, wo wir unsere Aufmerksamkeit hinlenken, wird die neuronale Aktivierung zwischen wechselseitig verbundenen Neuronen stimuliert. Diese Koppelung der neuronalen Aktivierung führt zu Veränderungen bei der Eiweißsynthese und der Zunahme synaptischer Verbindungen. So nutzen wir die Aufmerksamkeit, um im Gehirn neuronale Aktivierung und neuronales Wachstum zu stimulieren (SNAG*: stimulate neuronal activation and growth). Wenn sich die Muster der Aktivierung verändern, werden die neuronalen Verbindungen neu vernetzt.
Im Mindsight Institute, dem Zentrum der Interpersonellen Neurobiologie, verwenden wir diese Formulierung: „neue Vernetzungen inspirieren“. Das bedeutet, dass unsere Beziehungen* mit anderen uns dazu motivieren können, unsere Aufmerksamkeit auf neue und integrativer Weise zu fokussieren, so dass wir einen resilienten Geist und ein gesundes Gehirn entwickeln.
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Neuroplastizität
Worum geht es?
Neuroplastizität* ist die Fähigkeit des Gehirns*, als Reaktion auf Erfahrungen seine Struktur zu verändern. Eine Erfahrung aktiviert Neuronen*, die dann Gene „einschalten“ und in den Verbindungen zwischen den Neuronen strukturelle Veränderungen hervorrufen kann. Selbst der Fokus der Aufmerksamkeit* ist eine Form von Erfahrung, die Neuronen aktiviert, Gene einschaltet und in den Verbindungen zwischen den Neuronen strukturelle Veränderungen hervorruft. Auf diese Weise kann der mentale Prozess* der Fokussierung der Aufmerksamkeit die physische Struktur des Gehirns verändern. Das ist Neuroplastizität. Wie läuft dieser Prozess ab? Wenn wir einige der Einzelheiten verstehen, die diesem Prozess zugrunde liegen, können wir diese wichtige Frage beantworten.
Die Neuronale Aktivierung* bedingt die Bewegung geladener Teilchen, die als Ionen bezeichnet werden, die sich in die Zellmembran und aus der Zellmembran heraus und in dem langen, schlauchartigen Zellfortsatz, der als Axon bezeichnet wird, bewegen. Dieser elektrische Prozess wird als Aktionspotential bezeichnet und gleicht der Idee des Flusses* von Elektrizität entlang des Neurons. Wenn die Bewegung geladener Teilchen, die Ionen des Aktionspotentials, schließlich das Ende des Neurons erreicht, führt dies zur Freisetzung von Neurotransmittern. Neurotransmitter sind Chemikalien, die das nachfolgende Neuron erregen oder dämpfen können. Dies geschieht durch die Art und Weise, wie die Chemikalien über die Synapse* diffundieren, die zwei Neuronen miteinander verknüpft* und wie sie die aufnehmenden Rezeptoren der Membran des nachfolgenden Neurons erregen. Der Raum zwischen den beiden miteinander kommunizierenden Neuronen, in dem der Transmitter freigesetzt wird – die Synapse – ist im Grunde die Art und Weise, wie sich Neuronen miteinander verknüpfen. Der lange axonale Zellfortsatz verbindet das Neuron entweder mit dem Zellkörper der nachfolgenden Zelle oder mit den aufnehmenden Dendriten. Durch diese Verknüpfungen fließt die elektrochemische Energie* und daran beteiligt sind das Aktionspotential und die Aktivierung der Neurotransmitter/Rezeptoren. Wenn Neuronen aktiviert werden, dann fließen Aktionspotentiale die Membran des der Synapse vorgelagerten Neurons (präsynaptisches Neuron) entlang und die Transmitter aktivieren oder dämpfen das der Synapse nachgelagerte Neuron (postsynaptisches Neuron). Wenn das nachfolgende Neuron aktiviert wurde, dann erzeugt es selbst ein Aktionspotential – vergleichbar mit einer Strömung –, das den langen Zellfortsatz entlang fließt und das Ende der Synapse erreicht. Und hier beginnt diese Sequenz von neuem. Das ist die Bedeutung der neuronalen Aktivierung.
Das zeigt, dass ein Aspekt der neuronalen Funktion als die Bewegung von elektrischen (Ionen bewegen sich durch die Membran des Neurons) und chemischen (Freisetzung von Neurotransmittern und Wirksamkeit der Rezeptoren, vergleichbar mit einem Schlüssel in einem Schloss) Formen von Energie im Verlauf der Zeit gesehen werden kann. Der elektrochemische Energiefluss ist der verkörperte* Mechanismus, der in unserem Dreieck* der menschlichen Erfahrung vom Gehirn repräsentiert wird.
In einigen Situationen löst diese neuronale Aktivierung die genetische Maschinerie im Nukleus im Neuron aus, was zur Produktion des Proteins und zur Schaffung und Stärkung der Verbundenheit zwischen Neuronen führt. Der elektrochemische Energiefluss löst die Aktivierung von Genen und die Veränderung der Strukturen des Gehirns aus.
Es sind zwei Wege bekannt, wie in der Kindheit die Bildung der Synapsen abläuft. Einer dieser Wege ist ein Mechanismus der „Erfahrungserwartung“, durch den Gene die Natur der Verbindungen codieren, die sich im Fötus und im Neugeborenen bilden. Diese Verbindungen „erwarten“, dass das Kind grundlegende, durch die Zugehörigkeit zu einer Spezies bedingte Ereignisse erfahren wird, wie Beispiel Licht und Klängen ausgesetzt sein, um die vorher gebildeten synaptischen Verbindungen des Systems* der Wahrnehmung* des Sehens und Hörens aufrechtzuerhalten. Im Gegenzug dazu gibt es auch einen Mechanismus der Erfahrungsabhängigkeit durch den individualisierte Erfahrungen – wie das Sehen der Mutter im Park oder das Hören der Stimme des Vaters beim Schwimmen im Schwimmbecken – in einzigartiger Weise die genetische Maschinerie aktivieren. Dadurch werden Synapsen geschaffen, die von dieser bestimmten Reihe von Erfahrungen abhängig sind, um gebildet zu werden.
Solche grundlegenden neuronalen Verbindungen werden früh im Leben gebildet, und dieser Mechanismus bildet die Grundlage dafür, wie das Gehirn während des Aufwachsens des Kindes bei der Informationsverarbeitung* mitwirkt. Der Fokus der Aufmerksamkeit und die fortwährende Stimulation der neuronalen Aktivierung formen die wechselseitig verbundene neuronale Architektur eines Menschen im Verlauf seines Lebens.
Implikationen: Was bedeutet Neuroplastizität für unser Leben?
Neuronale Aktivierung ist mit mentalen Erfahrungen verbunden, wie Wahrnehmen, Denken, Fühlen