Nun können wir aufbauend auf dem grundlegenden Dreieck der menschlichen Erfahrung ein Dreieck des Wohlbefindens konzipieren. Zu diesem Zwecke müssen wir uns unweigerlich ein paar wichtige Fragen stellen: Was ist ein gesunder* Geist? Was ist ein gesundes Gehirn? Und was sind gesunde Beziehungen? Aus der Sicht der Interpersonellen Neurobiologie ist Integration* das Merkmal guter Gesundheit. Integration ist die Verknüpfung* differenzierter Elemente. Ein gesunder Geist, ein gesundes Gehirn und gesunde Beziehungen entstehen aus Integration. Die strukturellen Verbindungen von differenzierten Bereichen im Körper ermöglichen eine flexible und adaptive Regulation. Ein gut reguliertes Gehirn koordiniert und balanciert seine Funktionen durch Integration. Die funktionale Verbindung unterschiedlicher Individuen miteinander erlaubt eine mitfühlende* und empathische* Kommunikation, wodurch erfüllende Beziehungen entstehen können. Gesunde Beziehungen entfalten sich durch integrative Kommunikation*, in der Unterschiede gewürdigt werden und eine mitfühlende Verbindung gebildet wird. Ein kohärentes* inneres mentales Leben entsteht aus einer solchen verkörperten und relationalen* Integration. Ein integrierter Geist ist ein resilienter und gesunder Geist. Und so können wir sagen, dass Gesundheit aus der Interaktion im Dreieck entsteht. Wir können es auch anders beschreiben: Gesundheit entsteht aus einem ausgeglichenen, koordinierten Gehirn, empathischen und verbundenen Beziehungen und einem kohärenten und resilienten Geist.
Implikationen: Was bedeutet das Dreieck des Wohlbefindens für unser Leben?
Das Dreieck des Wohlbefindens verändert unsere Herangehensweise an die Interpretation wissenschaftlicher Erkenntnisse. Obwohl dies nicht der Ansatz der etablierten Wissenschaft ist, können wir in der Interpersonellen Neurobiologie diese Perspektive der Integration verwenden, um unser Verständnis vom Energie- und Informationsfluss durch das Gehirn (wie er sich in den vielen Gehirn-Scans zeigt) umzuformulieren. Wir können das Forschungsgebiet der mentalen Störungen neu interpretieren (das häufig als „mentale oder psychische Gesundheit“ beschrieben wird, obwohl meist weder das Mentale noch die Gesundheit definiert wird). Wir können auch einen neuen Zugang zu unserem Verständnis relationaler Erfahrungen in Familien, Paaren, im Klassenraum oder in Unternehmen finden. Integration wird zu unserem Bezugssystem, und der Energie- und Informationsfluss steht für uns im Mittelpunkt.
Integration schafft Harmonie. Eine beeinträchtigte Integration führt zu Chaos* und/oder Erstarrung*. Wenn das Gehirn oder die Beziehungen nicht integriert sind, bewegen sie sich außerhalb des Flusses der Integration* und steuern auf das Chaos und die Erstarrung zu (s. Abb. K). Der Fluss ist eine optische Darstellung der mittleren Strömung von Harmonie, die auf der einen Seite vom Chaos und auf der anderen Seite von der Erstarrung begrenzt wird. Eine tiefgründige Implikation dieser Erkenntnisse ist ein neues Verstehen des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), das als „Bibel“ der psychiatrischen Fachliteratur gilt. Wenn dieses wichtige Handbuch aus der Perspektive der Interpersonellen Neurobiologie betrachtet wird, dann sehen wir in jedem Symptom jeder Erkrankung, die in diesem Text beschrieben wird, ein Beispiel für Chaos oder Erstarrung, das aus ungenügender Integration entsteht. Eine solche Sichtweise wird durch eine Reihe neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse unterstützt, die besagen, dass wesentliche psychiatrische Störungen, wie manisch-depressive Erkrankungen, Schizophrenie, Autismus ebenso wie entwicklungsbedingte Traumata* und Vernachlässigung* scheinbar mit Beeinträchtigungen der neuronalen Integration* einhergehen.
Wir haben eine aufregende neue Ausgangslage, von der aus wir kreative* Wege finden können, wie wir Gesundheit in unserem Leben unterstützen können: Neben der soeben beschriebenen Perspektive der Integration und Gesundheit stehen uns die neuen spannenden Erkenntnisse über die Wirkung der Neuroplastizität* zur Verfügung, durch die wir im Laufe des Lebens die strukturellen Verbindungen im Gehirn verändern können. Der Auffassung nach ist die Integration im Herzen der Gesundheit anzusiedeln: Wir können uns gegenseitig darin bestärken, neue und effektive Ansätze zu finden, um in unseren Beziehungen, im Gehirn und im Geist Wohlbefinden zu fördern.
Das Dreieck des Wohlbefindens setzt den Geist, das Gehirn und die Beziehungen in ein Bezugssystem, das ihre wechselseitig verbundenen Eigenschaften aufzeigt. Dadurch werden wir bestärkt, eine ganze Spannbreite akademischer Forschungen und praktischer Anwendungen zusammenzubringen, wodurch diese drei Facetten unseres menschlichen Lebens vollkommen integriert werden. Das Dreieck zeigt drei, einander gegenseitig beeinflussende Facetten einer Wirklichkeit.
In der Interpersonellen Neurobiologie gibt es in therapeutischen Settings einen Ansatz, der Chaos und Erstarrung als beeinträchtigte Integration im Gehirn und in den Beziehungen versteht. Integration erfordert die Verknüpfung differenzierter Elemente eines Systems – eine beinträchtigte Integration kann also daher stammen, dass ein Aspekt oder beide Aspekte (Differenzierung und Verknüpfung) nicht gut entwickelt sind. Verschiedene Integrationsbereiche* können dann geprüft werden, um zu sehen, ob die Verknüpfung und Differenzierung in diesem Bereich des Lebens nicht gut entwickelt sind. Daraufhin lassen sich klinische Interventionen entwickeln, die auf die Entwicklung dieser Funktionen im Leben von Individuen oder Familien abzielen.
Die Interpersonelle Neurobiologie beginnt dann mit der Grundlage der Gesundheit: Wir haben alle einen natürlichen Drang nach Integration. Die Hindernisse bei der Integration können eine Kombination aus genetischen, erfahrungsbezogenen oder zufälligen Faktoren sein. Ohne sich auf die Pathologie zu fokussieren, erkennt diese Herangehensweise das jedem Menschen innewohnende Potential an, sich selbst zu „heilen“ und „ganz“ zu werden, indem Blockaden im Bereich seiner Fähigkeit, das Gehirn und die Beziehungen zu integrieren, aufgelöst werden. Die Rolle des Klinikers, Lehrers oder der Eltern besteht also darin, die Entdeckung dieses Potentials für Integration, das in jedem von uns vorhanden ist, zu unterstützen. So können wir zum Erwachen des Geistes beitragen, um im Leben eines Menschen Gesundheit zu fördern.
Die Anwendung des Dreiecks im Alltag versetzt uns in die Lage zu erkennen, dass unser Geist nicht nur aus neuronalen Mechanismen entsteht, sondern auch aus den Beziehungen, die wir mit anderen Menschen und mit unserem Planeten entwickeln. Das bedeutet, dass wir unseren Geist nicht „besitzen“, sondern eher ein erweitertes Gefühl von Identität haben, das über die Grenze unserer Haut hinausgeht – über eine Definition eines „Selbst*“ hinaus, das sich nur auf unsere körperliche Hülle beschränkt. Wenn man Studien zu Glück, Gesundheit, Langlebigkeit und sogar Weisheit* betrachtet, ist eines der Schlüsselmerkmale, das von allen geteilt wird, Beziehung. Wir können sehen, dass das Dreieck den Beziehungen bei der Formung des Geistes eine ebenso wichtige Rolle einräumt wie den verkörperten Mechanismen des Gehirns. Wenn die Beziehungen integriert sind, entfaltet sich der Geist eines Menschen und der Einzelne ist gesünder, glücklicher, weiser und lebt länger. Nicht schlecht für die Spitze eines Dreiecks!
Im Herzen des Dreiecks des Wohlbefindens liegt eine vollkommen integrierte Sicht des Energie- und Informationsflusses: die Art und Weise, wie er in Beziehungen geteilt wird, sich durch die verkörperten Mechanismen des Gehirns bewegt und durch den verkörperten und relationalen Prozess des Geistes, dessen Merkmale Selbstorganisation und Emergenz sind, reguliert wird. All dies kann in einem Diagramm gefunden werden: Wir können sozusagen unsere wissenschaftlichen Hüte an die integrierte Natur der wechselseitig verbundenen Punkte des Dreiecks hängen.
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Gewahrsein
Worum geht es?
Gewahrsein* ist ein grundlegender Aspekt der mentalen Erfahrung, durch den wir das Gefühl haben, etwas zu wissen oder uns einer Sache bewusst zu sein. Es gibt verschiedene Facetten des Gewahrseins, einschließlich der subjektiven Qualität der Phänomene, derer wir uns gewahr sind, was manchmal auch als „Qualia“ von etwas bezeichnet wird, wie der Duft einer Rose oder die rote Farbe der Blütenblätter. Wir kennen auch die Erfahrung des Wissens, das Gefühl, dass wir uns einer Sache