„Nehmen wir an, es ist ein ruhiger Tag, absolut still, es regt sich kein Zweig und kein Blatt. Mir erscheint er still wie ein Grab, obwohl in den Hecken zahllose unsichtbare Vögel lärmen. Dann kommt eine Brise, die ausreicht, ein Blatt zu bewegen; und diese Bewegung höre und sehe ich wie einen lauten Ruf. Die scheinbare Lautlosigkeit ist durchbrochen. Ich sehe, als ob ich hören würde, den Wind als visionäres Geräusch im bewegten Laub … Manchmal muss ich mich richtiggehend anstrengen und mir sagen, dass ich nichts ‚höre‘, denn es gibt ja nichts zu hören. Zu solchen ‚Nicht-Geräuschen‘ gehört zum Beispiel der Flug und die Bewegungen von Vögeln, es können aber auch Fische im klaren Wasser oder in einem Aquarium sein. Ich nehme an, dass der Flug von Vögeln, zumindest aus der Entfernung, lautlos sein muss … Und doch erscheint er mir hörbar, wobei jede Vogelart eine andere ‚Augen-Musik‘ erzeugt, von der gelassenen Melancholie der Möwen bis zum Stakkato herumflitzender Blaumeisen …“
John Hull, der in seinen späten Vierzigern komplett das Augenlicht verlor, erlebte den allmählichen Verlust aller visuellen Bilder und Erinnerungen und glitt in eine, wie er sagt, „tiefe Blindheit“. Laut Oliver Sachs’ Artikel im „New Yorker“ zum Thema Sinneswahrnehmung geschah bei dem „Ganzkörperseher“ (so charakterisierte Hull selbst seinen Zustand tiefer Blindheit) eine Verlagerung der Aufmerksamkeit, seines Schwerpunkts, hin zu den anderen Sinnen. Und Sachs berichtet: „Hull schreibt immer wieder davon, wie die anderen Sinne eine neue Fülle und Kraft gewinnen. So spricht er zum Beispiel davon, wie das Geräusch des Regens, dem er zuvor nie besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte, nun eine ganze Landschaft erstehen lässt, denn Regen auf dem Gartenweg klingt anders, als wenn er auf den Rasen trommelt oder auf die Büsche im Garten oder auf den Zaun, der den Garten von der Straße trennt.“
„Der Regen hat die Gabe, die Konturen aller Dinge hervortreten zu lassen; er breitet eine farbige Decke über zuvor unsichtbare Dinge; anstelle der intermittierenden und dadurch fragmentarischen Welt schafft der stetig fallende Regen die Kontinuität des akustischen Erlebens … präsentiert in einem einzigen Moment die Fülle der gesamten Situation … gibt dir ein Gefühl für die Perspektive und den tatsächlichen Zusammenhang der einzelnen Teile der Welt.“
Sachs’ Formulierung „dem er zuvor nie besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte“ ist aufschlussreich. In Menschen, denen ein oder mehrere Sinne fehlen, fördert und verstärkt die bloße Notwendigkeit solch eine Verlagerung der Aufmerksamkeit. Aber wir müssen nicht erst den Verlust unseres Gehörs oder Augenlichtes (oder eines anderen Sinneskanals) erleben, um ihm Aufmerksamkeit zu widmen. Achtsamkeit lädt uns ein, unseren Sinneseindrücken am Punkt der Berührung zu begegnen (siehe dazu auch „Wie die Schuhe entstanden“ im ersten Band „Meditation ist nicht, was Sie denken“, S. 100), diese überreichen Welten zu erkennen und im Erkennen zu verweilen, statt sie durch Ignorieren oder gewohnheitsmäßiges Abstumpfen der Sinnestore wie auch des Geistes, der sie durchschreitet und ihnen und uns Sinn verleiht, einzuebnen.
Genauso, wie wir von denen lernen und von ihnen in Erstaunen versetzt werden können, die den Verlust eines oder mehrerer Sinne erlitten und sich körperlich und geistig auf erstaunliche Weise angepasst und umgestellt haben, um ein reiches Leben führen zu können – genauso können wir dazulernen, indem wir der Welt der Natur, die uns über alle Sinne gleichzeitig ruft und sich uns darbietet, absichtlich Aufmerksamkeit widmen; einer Welt, in der unsere Sinne ja geschaffen und geschärft wurden, und in die wir von Anfang an nahtlos eingebunden waren.
Obwohl wir dazu neigen, es nicht zu bemerken, nehmen wir in jedem Moment mit allen Sinnen gleichzeitig wahr. Sogar in Wrights und Hulls Beschreibungen gibt es Querverweise auf den verlorenen Sinneskanal. Wright muss sich selbst daran erinnern, dass er nicht hört, was er sieht, denn es „erscheint ihm hörbar“, manifestiert sich als „Augen-Musik“. Und Hull, der kein visuelles Erleben hat, spricht dennoch von einer „farbigen Decke“, die „über zuvor unsichtbare Dinge“ gebreitet wird, was den Schluss nahelegt, dass sie durch sein sorgfältiges Hören in der Tat „sichtbar“ gemacht werden.
Die Sinne überlappen sich, gehen ineinander über und befruchten sich gegenseitig. Dieses Phänomen wird Synästhesie genannt. Auf der Ebene unseres Seins sind wir nicht fragmentiert. Waren wir nie. Unsere Sinne, die ineinander übergehen, formen Moment um Moment unser Erkennen der Welt und unsere Teilhabe an ihr. Dass wir das nicht erkennen, ist lediglich Ausdruck unserer Entfremdung von unserem eigenen fühlenden Körper und der Welt der Natur.
David Abram, dessen Buch „Im Bann der sinnlichen Natur“3 gründlich die Überschneidungen untersucht zwischen der Phänomenologie und der Welt der Natur, wie sie von allen sie bewohnenden Lebewesen gefühlt und erkannt wird, darunter auch uns, wenn wir uns in der Wildnis befinden – Abram teilt mit uns die reichen Dimensionen der sensorischen Matrix, die uns hervorgebracht und über Hunderttausende von Jahren hinweg genährt hat:
„Das laute, gutturale Krächzen, mit dem der Rabe über mir kreist, bleibt nicht auf ein Feld des Hörbaren beschränkt – sein Ruf findet Widerhall im Sichtbaren, die gesamte sichtbare Landschaft belebt sich augenblicklich durch das kecke Wesen und Gehabe dieser nachtschwarzen Gestalt. Meine Sinne streben, ausgehend von einem kohärenten Körper, in verschiedene Richtungen, um im Wahrgenommenen als kohärente Einheit wieder zusammenzulaufen – ähnlich den separaten Blickwinkeln meiner beiden Augen, die im Raben zusammenlaufen und sich dort zu einem gemeinsamen Fokus vereinen. Meine Sinne verbinden sich in den Dingen, die ich wahrnehme, oder, besser gesagt, jedes wahrgenommene Ding führt meine Sinne zu einer kohärenten Einheit zusammen – das erst lässt mich das Wahrgenommene als ein Kräftezentrum erfahren, als ein anderes Erfahrungsgeflecht, als ein Anderes.
Wie wir die Wahrnehmung vorhin als dynamische Partizipation zwischen meinem Körper und den Dingen beschrieben haben, so erkennen wir nun, wiederum in einem Akt der Wahrnehmung, eine Teilhabe der verschiedenen Sinnessysteme des Körpers selbst. Diese Vorgänge sind tatsächlich nicht voneinander zu trennen, denn die Verflechtung meines Körpers mit den Dingen, die er wahrnimmt, wird erst durch die Verschränkung meiner Sinne herbeigeführt – und umgekehrt. Die Anordnung meiner Sinnesorgane zueinander – die Augen sind nach vorne, die Ohren eher nach hinten gerichtet usw. – und ihre seltsame Gabelung – wir haben nicht nur eines, sondern zwei Augen, eines auf jeder Seite, ebenso zwei Nasenlöcher, zwei Ohren usw. – weisen darauf hin, dass der Körper eine auf die Welt abgestimmte Form ist; sie lässt meinen Körper zu einem offenen Schwingkreis werden, der sich erst in Dingen, im Anderen, in der ihn umgebenden Erde schließt.“4
Eingebettet und versunken in die Welt der Natur, kennen wir sie nur durch unsere Sinne, und auch wir werden erkannt durch die Sinne anderer Wesen, darunter auch Wesen, die nicht-menschlich sind, uns aber auf ihre eigene Weise trotzdem spüren, sei es nun ein Moskito, der ein Mittagessen sucht, oder Vögel, die unsere Ankunft in einer Waldschlucht verkünden. Wir sind Teil dieser Landschaft, sind darin aufgewachsen, und wir sind immer noch im Besitz all dieser Gaben, auch wenn sie im Vergleich zu unseren Jäger-und-Sammler-Vorfahren vielleicht ein wenig verkümmert sein mögen. Der Bann der sinnlichen Natur in Abrams faszinierender Formulierung ist nicht weiter entfernt als das Geräusch des Regens, das wir aufnehmen, das Gefühl der Luft auf der Haut, die Wärme der Sonne auf dem Rücken oder der Blick Ihres Hundes, wenn Sie sich ihm nähern. Können wir es fühlen? Können wir es erkennen? Lassen wir uns davon umarmen? Und wenn ja, wann? Wann? Wann? Wann? Wann? Wann?
3 Abram, David, Im Bann der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt. Mit einem Vorwort von Andreas Weber. Klein Jasedow: thinkOya, 2012.
4 Aus: David Abram: Im Bann der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt, übersetzt von Matthias Fersterer und Jochen Schilk, Klein Jasedow: thinkOya 2012, S. 80–81.
Sehen
Wir sind ständig dabei, zu sehen: durch Linsen, Teleskope, Bildröhren … Unser Sehen wird jeden Tag weiter perfektioniert – und doch sehen wir immer weniger. Nie ist es dringlicher gewesen, über das Sehen zu sprechen … wir sind Betrachter, Zuschauer … wir sind „Subjekte“, die „Objekte“anschauen. Schnell kleben wir auf alles ein Etikett – ein Etikett, das dann ein für allemal kleben bleibt. Mithilfe dieser Etiketten erkennen wir alles