Mit Hilfe der Puppen spielte die Erzieherin mehrmals die Geschichte von dem aufgeschlagenen Knie und dem Anruf bei Mama, damit sie zur Schule kommt und Annika abholt. Annika verstand „Mama“ und ihren eigenen Namen und durch die Wiederholung der Geschichte mit den sichtbaren Requisiten begann sie zu verstehen, was geschehen war und was nun weiter geschehen würde. Mit jeder Wiederholung verschwand ihr Kummer mehr und mehr. Nach kurzer Zeit rutschte sie vom Schoß der Erzieherin und kehrte fröhlich zu ihrem Spiel zurück, offenbar sicher, dass ihre Mama kommen würde, um sie zu holen. Als ihre Mutter kam, brachte Annika die Puppen und das Telefon zu der Erzieherin, denn sie wollte die Geschichte noch einmal hören und die Erfahrung von dem aufgeschlagenen Knie und ihrem Kummer mit ihrer Mutter teilen.
Das Erzählen der Geschichte tröstete Annika und erlaubte ihr nicht nur, zu verstehen, was geschehen war, sondern auch den Ausgang in Form der Ankunft ihrer Mutter vorauszusehen. Als Erwachsene erzählen wir unsere Geschichten normalerweise mit Worten. Kinder jedoch, auch solche, die gesprochene Sprache verstehen, ziehen einen großen Nutzen aus der Verwendung von Requisiten wie Puppen und Marionetten oder aus dem Zeichnen von Bildern, um mit ihrer Hilfe das Geschehene zu verarbeiten. Wenn Kinder verstehen, was ihnen widerfahren ist und was ihnen wahrscheinlich noch geschehen wird, lindert dies ihren Kummer normalerweise erheblich.
Es mag Erfahrungen aus Ihrer Kindheit geben, die Sie zu jener Zeit nicht verarbeiten konnten, weil kein verständnisvoller Erwachsener verfügbar war, der ihnen half, das Erlebte zu verstehen. Der Geist versucht vom Beginn des Lebens an, einen Sinn in der Welt zu sehen und seinen inneren Gefühlszustand durch die Art der Beziehung, hier des Kindes zu den Eltern, zu regulieren. Eltern helfen ihren Kindern dabei, ihre innere Verfassung zu regulieren und ihren Erlebnissen Sinn zu geben. Wenn sie älter werden, entwickeln Kinder die Fähigkeit, diese Erlebnisse zu einer autobiografischen Erzählung zusammenzufügen. Diese Fähigkeit, Geschichten zu erzählen spiegelt die grundlegende Weise wider, wie sich ein Kind den Sinn der Welt hergeleitet und gelernt hat, seinen Gefühlszustand zu regulieren.
Die Art, wie wir unsere Lebensgeschichte erzählen, zeigt, wie wir das verstehen, was uns in unserem Leben widerfahren ist. Was geschieht mit Ihnen, wenn Sie Ihre Lebensgeschichte erzählen? Empfinden Sie sich als distanzierter Erzähler oder durchleben Sie Ihre Gefühle erneut, wenn Sie Ihre Geschichte erzählen? Erscheinen Ihnen bestimmte Dinge mit intensiven Gefühlen verknüpft und ungelöst, obwohl sie vielleicht schon lange zurückliegen? Erinnern Sie sich an viele Details aus Ihrer frühen Kindheit? Was fühlen Sie, wenn Sie über Ihre frühesten Erlebnisse berichten?
Unsere Lebensgeschichten können uns Aufschluss darüber geben, wie unsere Vergangenheit unsere Gegenwart beeinflusst. Die Art, wie wir sie erzählen und dabei bestimmte Aspekte betonen, kann zeigen, auf welche Weise wir die Welt und uns selbst verstehen. Sie können zum Beispiel an die Ereignisse im Familienkreis denken, ohne besonders auf die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander einzugehen. Bei einigen Familien verhalten sich die Mitglieder sehr distanziert zueinander, man zeigt nur selten Gefühle, und jeder lebt mit seinen eigenen Gefühlen für sich. In solchen Familien kann es sowohl Eltern als auch Kindern schwer fallen, eine ausdrucksvolle autobiografische Geschichte zu erschaffen. In dieser Situation lassen sich nur schwer Einzelheiten abrufen, und manchmal fehlen jegliche Gefühle. In den Familien tauscht man sich häufig nur über die äußeren Ereignisse und nicht über die Befindlichkeiten der Mitglieder aus. In emotional distanzierten Familien scheint die wichtige Fähigkeit der Geistsicht, die Fähigkeit, den eigenen Geist und den anderer wahrzunehmen, sowohl bei den Eltern als auch bei den Kindern nur sehr minimal vorhanden zu sein. Geschichten sind der Versuch unseres Geistes, unser eigenes reiches Innenleben und das anderer zu verstehen.
Wege des Verstehens
Der Geist, der aus den Aktivitäten des Gehirns entsteht, verfügt über viele verschiedene Verarbeitungsmethoden. Auf einer sehr grundlegenden Ebene haben wir die verschiedenen Wahrnehmungssysteme Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und Riechen. Auf einer weiteren Ebene befinden sich die unterschiedlichen Arten von „Intelligenz“, etwa die sprachliche, räumliche, kinästhetische, musikalische, mathematische, selbstbezogene und zwischenmenschliche. Der Geist ist komplex und zeigt sich in Myriaden wundersamer und unterschiedlicher Arten, die Welt wahrzunehmen und sich mit ihr auszutauschen. Wie wir wahrnehmen wirkt sich unmittelbar auf unser Verhalten aus. Als Organismen mit Eingabe- und Ausgabewegen haben wir Gehirne, die dazu ausgelegt sind, Daten von der Welt aufzunehmen, sie innerlich zu verarbeiten (was oft als Kognition bezeichnet wird) und dann eine entsprechende Antwort in Gang zu setzen: Eingabe – interne Verarbeitung – Ausgabe. Das ist die einfachste Beschreibung für die Rolle des Gehirns und des gesamten Nervensystems.
Wir können untersuchen, wie sich die rechte und die linke Gehirnhälfte bei der Verarbeitung eintreffender Daten unterscheiden. Beide Seiten haben sich über Jahrmillionen aus den asymmetrischen Nervensystemen niederer Tiere entwickelt und sind ziemlich verschieden voneinander. Die beiden physisch getrennten Seiten des Gehirns sind durch Stränge aus Nervengewebe, die Corpus Callosum oder Balken genannt werden, miteinander verbunden. Diese Trennung lässt beide Seiten relativ unabhängig voneinander funktionieren und ermöglicht ihnen recht unterschiedliche Arten der Informationsverarbeitung. Durch die Hin- und Herleitung der Informationen zwischen beiden Gehirnhälften wird eine integrierte Form der Verarbeitung möglich, durch die das Gehirn höhere Funktionsebenen erreichen kann. Jede Seite des Gehirns nimmt auf die ihr eigene Weise wahr und verarbeitet die Informationen unterschiedlich. Der Vorteil dieser Unterschiede ist, dass ein einzelnes Gehirn über mehr Funktionen verfügt, wenn seine Teile spezialisiert sind. Wenn jede ausdifferenzierte Seite etwas zu einem integrierten Ganzen beiträgt, dann lässt sich dadurch mehr erreichen, als es jede Seite für sich könnte. Wären beide Hälften gleich, dann wären wir weniger komplex und anpassungsfähig.
Diese beiden unterschiedlichen Arten des Ablaufs von Wahrnehmung – interner Verarbeitung – Ausgabe lassen sich unter anderem mit den Begriffen rechter und linker Verarbeitungsmodus bezeichnen. Der rechte Modus, der hauptsächlich durch die Aktivitäten der rechten Hemisphäre erzeugt wird, verarbeitet Informationen auf eine nichtlineare, ganzheitliche Weise. Er ist auf die Aufnahme und Verarbeitung visueller und räumlicher Daten spezialisiert. Autobiografische Daten, die Verarbeitung und Sendung von nonverbalen Signalen, ein ganzheitliches Körpergefühl, mentale Modelle des Selbst, intensive Gefühle und soziales Verständnis werden alle hauptsächlich auf der rechten Seite verarbeitet.
Im Gegensatz dazu beschäftigt sich der linke Modus, der hauptsächlich in der linken Gehirnhälfte beheimatet ist, mit weitgehend anderen Dingen: lineare, logische und Sprach-Verarbeitung. „Linear“ bedeutet, dass eine Information der anderen wie auf einer Linie folgt. Mit „logisch“ wird die Suche nach Ursache-Wirkungs-Beziehungen als Mustern in der Welt bezeichnet. Die Sprachverarbeitung verwendet die in Wörtern enthaltenen digitalen Informationen (ja/nein, ein/aus), wie sie zum Beispiel auf dieser Seite zu lesen sind.
Erzählungen und die Kombination von links und rechts
In dem Buch The Developing Mind wird der Gedanke entwickelt, dass Erzählungen, die dazu dienen, das eigene Leben zu verstehen, aus einer Kombination des links angesiedelten Bestrebens, alles zu erklären, und der rechts abgelegten autobiografischen, sozialen und emotionalen Informationen entstehen. Eine kohärente Erzählung, die Erlebnisse im Leben in einem sinnvollen Licht erscheinen lässt, kann durch die flexible Kombination der rechten und linken Verarbeitungsmodi entstehen. Aus der Zusammenarbeit des links gesteuerten Bestrebens zu erzählen und der nonverbalen und autobiografischen Verarbeitung der rechten Seite entsteht eine kohärente Erzählung.
Abb.