Bis jetzt weiß noch niemand, warum das so ist. Eine Möglichkeit wäre, dass die Art, wie wir unsere Erinnerungen konsolidieren, wie wir also die riesige Menge Stoff in unseren Gedächtnisspeicher integrieren, erst in unserer Vorschulzeit wirklich ausgereift ist. Explizite Erinnerungen bewegen sich durch die Aktivität des Hippocampus vom ersten Speichern in das Kurzzeit- und dann in das Langzeitgedächtnis. Mit der Zeit, durch den Prozess der so genannten kortikalen Konsolidierung, werden die Langzeit-Erinnerungen permanent. Für die Transformierung dieser Gedächtnisinhalte in eine permanente Form, in der sie unabhängig vom wichtigen Hippocampus abgefragt werden können, benötigen wir unter anderem REM-Schlaf, also Schlafphasen, die durch schnelle Augenbewegungen (rapideye move- ment, abgekürzt REM) gekennzeichnet sind. Das sind die Phasen, in denen wir träumen. Beim Träumen kommen Emotionen und Erinnerungen und die Verarbeitungsfunktionen der rechten und linken Gehirnhälfte zusammen. Möglicherweise benötigen wir dazu bestimmte integrative Schaltkreise, die bei Kindern im Vorschulalter noch nicht genügend ausgereift sind, um in späteren Jahren einen einfachen Zugriff auf explizite autobiografische Erinnerungen aus dieser Zeit zu ermöglichen. Vorschulkinder träumen zwar und haben explizite Erinnerungen an ihre Erlebnisse, aber wir nehmen hier an, dass der Konsolidierungsprozess in diesem Alter noch nicht ausgereift ist, so dass die autobiografischen Erinnerungen nicht vom Langzeitgedächtnis in eine dauerhafte Form überführt werden können. Wenn das Reifestadium der kortikalen Konsolidierung den begrenzenden Faktor darstellt, dann wird verständlich, warum es den meisten Menschen nach dem Vorschulalter schwer fällt, sich in Form kontinuierlicher Abläufe an davor liegende Lebensphasen zu erinnern.
Kleine Kinder verarbeiten ihre Erlebnisse unter anderem im Spiel. Indem sie neue Szenarien erdachter und durchlebter Ereignisse erschaffen, können sie neue Fähigkeiten üben und die komplexen emotionalen Gegebenheiten der sozialen Welten, in denen sie leben, in sich aufnehmen. Unser Geist versucht möglicherweise durch das spielerische Erschaffen von Geschichten und vermutlich durch unsere Träume, aus unseren Erfahrungen „schlau zu werden“, und dieses Verständnis in einem Bild von uns selbst in der Welt zu festigen. Wenn Kinder aus dem Vorschulalter herauswachsen, tritt durch die Reifung des Balkens, der die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet, und der präfrontalen Gehirnregionen möglicherweise ein Konsolidierungsprozess in Erscheinung, der die Vorstellung von einem Selbst im zeitlichen Zusammenhang verarbeiten kann und damit das Gerüst für ein Selbstverständnis bildet, das wir autobiografisches Gedächtnis nennen. Diese neurobiologische Reifung könnte erklären, warum der kontinuierliche Zugriff auf autobiografische Erinnerungen aus dieser Zeit erst mit einiger Verzögerung eintritt. Mit dieser Konsolidierung erzeugen wir wahrscheinlich unser autobiografisches Gefühl von einem Selbst – etwas, das durch Erfahrungen geformt wird und sich unser ganzes Leben hindurch weiterentwickelt.
Belastende Erlebnisse können sich anders auf unsere Erinnerung auswirken als nicht traumatische Ereignisse. Unverarbeitete Traumata können unter anderem die normale Verarbeitung von Erinnerungen blockieren, indem sie mit dem normalen Kodierungsund Speicherverfahren in Konflikt geraten. Beispielsweise kann eine überwältigende Erfahrung die Kodierung blockieren, indem sie die Verarbeitung der aufgenommenen Informationen im Hippocampus hemmt, so dass nur eine implizite und keine explizite Verarbeitung erfolgen kann. Dies könnte durch eine übermäßige Ausschüttung von Neurotransmittern oder Stresshormonen im Verlauf des schrecklichen Ereignisses ausgelöst werden. Sie blockieren die Kodierungsmechanismen des Hippocampus. Ein weiterer blockierender Faktor ist die Abwendung der Aufmerksamkeit, bei der die bewusste Wahrnehmung im Verlauf der Erfahrung auf einen nicht traumatischen Teil der Umgebung gerichtet wird. In dieser Situation könnte ebenfalls eine implizite Verarbeitung erfolgen, während die für eine explizite Kodierung durch den Hippocampus erforderliche Aufmerksamkeit blockiert ist. Beide Mechanismen führen zu rein impliziten Spuren von Erinnerungen, die beim Abruf den Geist der betreffenden Person erfüllen würden, ohne dass diese sie dabei als Erinnerungen empfindet. Darüber hinaus verfügen implizite Erinnerungen nicht über assoziative Verknüpfungen, wie sie vom Hippocampus geprägt werden und die sie in einen verständlichen Kontext bringen würden. Implizite Erinnerungen ohne explizite Verarbeitung können in extremen Fällen dazu führen, dass man einen Flashback erfährt, eine Rückblende, in der man Ereignisse noch einmal durchlebt. Im Allgemeinen sind sie jedoch eher die Ursache für starre, implizite, mentale Modelle, die Eltern daran hindern, im Umgang mit ihren Kindern flexibel und einfühlsam zu bleiben.
Kapitel 2
Wie wir die Realität wahrnehmen
Wir schreiben unsere Lebensgeschichten
Einleitung
In Geschichten interpretieren wir die Ereignisse in unserem Leben. Jeder Einzelne und wir alle gemeinsam erzählen Geschichten, um zu verstehen, was mit uns geschehen ist, und um in diesen Erfahrungen einen Sinn zu erkennen. Das Geschichtenerzählen ist eine Grundlage aller menschlichen Kulturen, und unsere gemeinsamen Geschichten schaffen eine Verbindung zu anderen, die uns das Gefühl gibt, zu einer bestimmten Gemeinschaft zu gehören. Die Geschichten einer bestimmten Kultur prägen die Art, wie ihre Mitglieder die Welt wahrnehmen. Auf diese Weise erfinden wir Geschichten, welche wiederum uns prägen. Aus diesem Grund sind Geschichten ein zentraler Bestandteil individueller und kollektiver menschlicher Erfahrung.
Wir alle haben unsere individuellen Geschichten, die persönlichen Erzählungen unseres Lebens, mit deren Hilfe wir unsere Selbsterkenntnis vertiefen und zu einem besseren Verständnis von uns selbst und unseren Beziehungen zu anderen gelangen. Mit autobiografischen Erzählungen versuchen wir einen Sinn in unser Leben zu bringen – sowohl in das, was uns widerfahren ist, als auch in unser eigenes inneres Erleben, jenes prachtvolle Gewebe einzigartigen, subjektiven Lebensgefühls, das jedem Individuum innewohnt. Indem wir durch das Erforschen der Ereignisse und mentalen Abläufe in unserem Leben lernen, uns selbst besser zu verstehen, werden unsere autobiografischen Geschichten wachsen und sich entwickeln.
Auch Kinder versuchen ihre Erfahrungen zu verstehen und einen Sinn darin zu sehen. Wenn Sie Ihren Kindern die Geschichte eines Erlebnisses erzählen, können Sie ihnen helfen, sowohl die Ereignisse als auch den emotionalen Gehalt der Erfahrung zu verarbeiten. Ein solcher Austausch mit den Kindern kann ihnen sehr dabei helfen, einen Sinn in das Geschehene zu bringen und ihnen Mittel zur Verarbeitung von Erfahrungen an die Hand geben, die sie zu nachdenkenden und einsichtigen Menschen machen. Ohne das emotionale Verständnis einer erwachsenen Bezugsperson kann ein Kind schnell Kummer oder sogar Scham empfinden.
Annika kam im Alter von drei Jahren in Marys Kindergarten. Sie sprach nur Finnisch. Ihre Familie war für zwei Jahre nach Kalifornien gezogen, da der Vater als Gastdozent an der Universität in Los Angeles arbeitete. Als Annika neu in den Kindergarten kam, blieb ihre Mutter so lange bei ihr, bis sie sich in der Umgebung und bei den Erziehern wohl fühlte. Sie war ein sehr nettes und aufgeschlossenes Kind, das gern mit anderen spielte, und die Sprachbarriere war nahezu unbedeutend bei dem Spaß, den die Kinder miteinander hatten.
Ihre Mutter konnte sie schon seit einigen Wochen ohne Schwierigkeiten im Kindergarten lassen, als etwas geschah, das deutlich zeigte, wie wichtig eine Geschichte für ein Kind sein kann, um seinen Kummer zu verarbeiten. Annika hatte den ganzen Morgen fröhlich gespielt, da fiel sie hin und schlug sich das Knie auf. Wie die meisten Kinder nach einem Sturz rief sie weinend nach ihrer Mutter. Bei ihrer Erzieherin konnte sie keinen Trost finden und so war sie weiterhin tiefunglücklich. Die Erzieherin bat die Bürohilfe nach der Mutter zu telefonieren und bemühte sich weiter, Annika zu trösten. Normalerweise hilft es einem Kind sehr, den Ablauf des Ereignisses und die damit verbundenen Gefühle noch einmal zu erzählen, um das Erlebnis zu verstehen und Trost bei einem einfühlsamen Erwachsenen zu finden. Da die Erzieherin jedoch nicht Finnisch sprach und Annika