Aber andrerseits: nicht nur die grundsätzlichen Anhänger, auch die grundsätzlichen Gegner jedes Umsturzes sind in Gefahr, sich zu irren. Eine tiefe, aber unbestimmte Enttäuschung ist von dem Entschluss der Verzichtleistung weit entfernt. Das Gefühl einer gescheiterten Erhebung, wie es heute in weiten Schichten besteht, ist wie eine offene Wunde, die keine Berührung erträgt. Was keine Anstrengung der Radikalen mehr vermag, würde der geringste Versuch der Gegengruppe, die Revolution gewaltsam zu beenden, sofort herbeiführen: eine wilde Erbitterung von ansteckender Kraft, die von entschlossenen Führern zu weittragenden Handlungen ausgenutzt werden kann. Der Gang der Ereignisse würde sich damit nicht dem Sinne und der Dauer, aber der Form und Stärke nach entscheidend ändern. Er könnte sehr blutig werden. Wir befinden uns heute in der Mitte der Bewegung mit jener unergründlichen Haltung der Massenseele, die auch in den anderen großen Revolutionen den klügsten Kennern jähe Überraschungen bereitet hat. Verbirgt die gespannte Ruhe einen ungeschwächten Willen oder verrät der gereizte Lärm die Ahnung des endgültigen Misserfolgs? Ist es für eine Aktion der Anhänger zu spät? Für eine Aktion der Gegner zu früh? Man weiß, dass Dinge, die zu einer gewissen Zeit nicht einmal berührt werden dürfen, zwei Jahre darauf von selbst fallen. Das galt 1918, das wird im umgekehrten Sinne aber auch in naher Zukunft gelten. Die Höflinge von gestern sind die Königsmörder von heute und die Königsmörder von heute die Herzöge von morgen. Niemand kann in solchen Zeiten für die Dauer seiner Überzeugung einstehen.
Aber mit welchen Zeiträumen ist hier zu rechnen? Sind es Monate oder Jahre? Der Kreislauf der deutschen Revolution steht, nachdem und wie sie einmal in Erscheinung getreten ist, in Hinsicht auf Tempo und Dauer fest. Mag niemand sie kennen, diese Faktoren sind trotzdem vorhanden in ihrer schicksalhaften Bestimmtheit. Wer sich in ihnen vergreift, geht zugrunde. Die Girondisten sind so zugrunde gegangen, weil sie den Gipfel der Revolution hinter sich, aber auch Babeuf, weil er ihn vor sich glaubte. Auch das Eingreifen neuer Kriege, auch das Erscheinen einer großen Persönlichkeit würden nichts ändern. Sie würden die welthistorische Erscheinung plötzlich und vollkommen umwandeln können – was für gewöhnliche Betrachter ja allerdings alles bedeutet –, den tiefern Sinn der deutschen Revolution würden sie in seiner Wesenheit nur bestätigen. Ein großer Mann ist derjenige, der den Geist seiner Zeit begreift, in dem dieser Geist lebendige Gestalt geworden ist. Er kommt, nicht um ihn aufzulösen, sondern zu erfüllen.
Woher dieser Geist des deutschen Sozialismus stammt, soll nun entwickelt werden.
8.
Sechstausend Jahre höherer Menschengeschichte liegen vor uns.
Aus der Masse, die sich über den ganzen Planeten verbreitet hat, sondert sich, Geschichte im tiefern Sinne, das Schauspiel und Schicksal der großen Kulturen ab. Sie liegen vor dem Auge des Betrachters als Formenwelten von gleichartigem Bau, mächtiges Seelentum, das sichtbare Gestalt gewinnt, innerstes Geheimnis, das sich in lebendig fortschreitender Wirklichkeit ausdrückt.
Ein unveränderliches Ethos wirkt in ihnen. Es prägt nicht nur je eine ganz bestimmte Art von Glauben, Denken, Fühlen, Tun, von Staat, Kunst und Lebensordnung, sondern auch einen antiken, indischen, chinesischen, abendländischen Typus »Mensch« von vollkommen eigner Haltung des Leibes und der Seele, einheitlich in Instinkt und Bewusstsein, Rasse in geistigem Sinne, aus.
Jedes dieser Gebilde ist in sich selbst vollendet und unabhängig. Historische Einwirkungen, über deren dichtem Gewebe die landläufige Geschichtsschreibung alles andere