Sie schluchzte und weinte nicht; sie war ganz die ergebene Beterin, die Fürbitterin.
Endlich schwieg sie, beugte sich über das Haupt des Gatten, beobachtete sein schwaches Atemholen und hauchte: „So behüt’ dich Gott, Seppel, tu’ mir meine Eltern und unsere ganze Freundschaft (Verwandtschaft) grüßen in der Ewigkeit. Behüt’ dich Gott, mein lieber Mann! Die heiligen Engel geben dir das Geleit’ und der Herr Jesus mit seiner Gnad’ wartet schon deiner bei der himmlischen Tür.“
Er hörte es vielleicht nicht mehr. Seine blassen, halboffenen Lippen gaben keine Antwort. Seine Augen sahen starr zur Stubendecke auf. Und aus den gefalteten Händen aufragend brannte die Wachskerze; sie flackerte nicht, still geruhsam und hell, wie eine schneeweiße Blütenknospe stand die Flamme empor – sein Atemzug bewegte sie nicht mehr.
„– Jetzt ist er mir gestorben!“ rief das Weib aus, schrill und herzdurchdringend, dann sank sie nieder auf einen Schemel und begann kläglich zu weinen. Die wieder erwachenden Kinder weinten auch; nur das kleinste lächelte …
Die Stunde lag auf uns wie ein Stein.
Endlich richtete sich die Häuslerin – die Witwe – auf, trocknete ihre Tränen und legte zwei Finger auf die Augen des Toten.
Die Wachskerze brannte, bis die Morgenröte aufging. Durch den Wald war ein Bote gegangen. Dann kam ein Holzarbeiter. Der besprengte den Toten mit Weihwasser und murmelte: „So rücken sie ein, einer nach dem anderen.“
Dann taten sie dem Meisensepp festtägige Kleider an, trugen ihn hinaus in die Vorlauben und legten ihn auf das Brett.
Das Buch ließ ich liegen auf dem Tisch für die Leichenwachen der nächsten Nächte, zu denen ich der Häuslerin das Lesen zugesagt hatte. Als ich fortgehen wollte, kam sie mit einem grünen Hut, auf welchem ein weit ausgebürsteter Gemsbart stak.
„Willst den Hut mitnehmen für deinen Vater?“ fragte sie, „der Seppel hat deinen Vater gern gehabt. Den Gamsbart magst zum Andenken selber behalten. Bet’ einmal ein Vaterunser dafür.“
Ich sagte meinen Dank, ich tat noch einen unsteten Blick gegen die Bahre hin; der Sepp lag lang gestreckt und hielt seine Hände über der Brust gefaltet. – Dann ging ich hinaus und abwärts durch den Wald. – Wie war’s licht und taufrisch, voll Vogelgesang, voll Blütenduft – voll Leben im Walde!
Und in der Hütte, auf dem Bahrbrett lag ein toter Mensch.
Ich kann die Nacht und den Morgen – das Sterben mitten in dem unendlichen Lebensquell des Waldes – nimmermehr vergessen. Auch besitze ich heute noch den Gemsbart zum Andenken an den Meisensepp.
Wenn mich die Gier anpackt nach den Freuden der Welt, oder wenn mich die Zweifel überkommen an der Menschheit Gottesgnadentum, oder wenn mich gar die Angst will quälen vor meinem vielleicht noch fernen, vielleicht schon nahen Hingang – so stecke ich den Gemsbart des Sepp auf den Hut.
WIE ICH DEM LIEBEN HERRGOTT MEIN SONNTAGSJÖPPL SCHENKTE
In der Kirche zu Ratten steht links am Hochaltare eine fast lebensgroße Reiterstatue. Der Reiter auf dem Pferde ist ein stolzer Kriegsmann mit Helm und Busch und einem kohlschwarzen Schnurrbart. Er hat das breite Schwert gezogen und schneidet mit demselben seinen Mantel entzwei. Zu Füßen des sich bäumenden Rosses kauert eine Bettlergestalt in Lumpen.
Als ich noch so ein nichtiger Knirps war, wie er einem ordentlichen Menschen kaum zum Hosensack emporgeht, führte mich meine Mutter gern in diese Kirche. In der Nähe der Kirche steht eine Marienkapelle, die sehr gnadenvoll ist und in welcher meine Mutter gern betete. Als oft kein Mensch sonst mehr in der Kapelle war, und vom Turme schon die Mittagsglocke in den heißen Sommersonntag hinausklang, kniete die Mutter immer noch in einem der Stühle und klagte Marien ihr Anliegen. Die „liebe Frau“ saß auf dem Altare, legte die Hand in den Schoß und bewegte weder den Kopf noch die Augen, noch die Hände.
Ich hielt mich lieber in der großen Kirche auf und sah den schönen Reiter an.
Und einmal, als wir auf dem Wege nach Hause waren und mich die Mutter an der Hand führte, und ich immer drei Schritte machen mußte, so oft sie einen tat, warf ich meinen kleinen Kopf auf zu ihrem guten Angesichte und fragte: „Zuweg steht denn der Reiter allfort auf der Wand oben und zuweg reitet er nicht zum Fenster hinaus auf die Gasse?“
Da antwortete die Mutter: „Weil du so kindische Fragen tust und weil es nur ein Bildnis ist, das Bildnis des heiligen Martin, der, ein Soldat, ein sehr guttätiger frommer Mann gewesen und jetzt im Himmel ist.“
„Und ist das Roß auch im Himmel?“ fragte ich.
„Sobald wir zu einem rechten Platz kommen, wo wir rasten können, so will ich dir vom heiligen Martin was erzählen“, sagte die Mutter und leitete mich weiter, und ich hüpfte neben ihr her. Da wartete ich schon sehr schwer auf das Rasten und in einemfort rief ich: „Mutter, da ist ein rechter Platz!“
Erst als wir in den Wald hineinkamen, wo ein platter, moosiger Stein lag, fand sie’s gut genug, da setzten wir uns nieder. Die Mutter band das Kopftuch fester und war still, als habe sie vergessen, was sie versprochen. Ich starrte ihr auf den Mund, dann guckte ich wieder zwischen den Bäumen hin, und mir war ein paarmal, als hätte ich durch das Gehölz den schönen Reitersmann reiten gesehen.
„Ja, ’leicht wohl, mein Bübel“, begann meine Mutter plötzlich, „allzeit soll man den Armen Hilfe reichen um Gottes willen. Aber so, wie der Martin gewesen, traben heutzutag’ nicht viel Herrenleut’ herum auf hohem Roß. – Daß im Spätherbst der eiskalte Wind über unsere Schafheide streicht, das weißt wohl, hast dir ja selber drauf im vorigen Jahr schier die Tatzelein erfroren. Siehst du, völlig eine solche Heide ist’s auch gewesen, über die der Reitersmann Martinus einmal geritten an einem späten Herbstabend. Steinhart ist der Boden gefroren, und das klingt ordentlich, so oft das Roß seinen Huf in die Erden setzt. Die Schneeflöcklein tänzeln umher, kein einziges vergeht. Schon will die Nacht anbrechen und das Roß trabt über die Heide, und der Reitersmann zieht seinen weiten Mantel zusammen, so eng es halt hat gehen mögen. Bübel, und wie er so hinfährt, da sieht er auf einmal ein Bettelmännlein kauern an einem Stein; das hat nur ein zerrissenes Jöppel an und zittert vor Kälte und hebt sein betrübtes Auge auf zum hohen Roß. Hu, und wie das der Reiter sieht, hält er an sein Tier und ruft zum Bettler nieder: Ja, du lieber armer Mann, was soll ich dir reichen? Gold und Silber hab’ ich nicht und mein Schwert kannst du nimmer brauchen. Wie soll ich dir helfen? – Da senkt der Bettelmann sein weißes Haupt nieder gegen die halbentblößte Brust und tut einen Seufzer. Der Reiter aber zieht sein Schwert, zieht seinen Mantel von den Schultern und schneidet ihn mitten auseinander. Den einen Teil des Kleidungsstückes läßt er hinabfallen zu dem zitternden Greise: Hab’ vorlieb damit, mein notleidender Bruder! – Den anderen Teil des Mantels schlingt er, so gut es geht, um seinen eigenen Leib und reitet davon.“
So hatte meine Mutter erzählt und dabei mit ihrem eiskalten Herbstabende den schönen Hochsommertag so frostig gemacht, daß ich mich fast schauernd an ihr lindes Busentuch schmiegte.
„’s ist aber noch nicht ganz aus, mein Kind“, fuhr die Mutter fort, „wenn du es nun gleichwohl weißt, was der Reiter mit dem Bettler in der Kirche bedeutet, so weißt du’s noch nicht, was weiter geschehen ist. Wie der Reitersmann nachher in der Nacht daheim auf seinem harten Polster ruhsam schläft, kommt derselbige Bettler von der Heide zu seinem Bett, zeigt ihm den Mantelteil, zeigt ihm die Nägelwunden an den Händen und zeigt ihm sein Angesicht, das nicht mehr alt und kummervoll ist, das strahlet wie die Sonnen. Derselbe Bettelmann auf der Heid’ ist der lieb’ Heiland selber gewesen. – So, Bübel, und jetzt werden wir wieder anrucken.“
Da erhoben wir uns und stiegen den Bergwald hinan.
Bis wir heim kamen, waren uns zwei Bettelleute begegnet; ich guckte jedem sehr genau in das Gesicht; ich hab’ gemeint, es dürfte doch der liebe Heiland dahinterstecken. Gegen Abend desselben Tages, als ich mein Sonntagskleidchen des sparsamen Vaters wegen schon hatte ablegen sollen, und nun wieder in dem vielfarbigen Werktagshöslein herumlief und hüpfte und nur noch das völlig neue