Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Langer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783963115943
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nicht, dachte Eva, die es sah. Sie war sich dabei allerdings keineswegs sicher.

      „Du kannst uns sicher erklären, was es mit der Stammzellenforschung auf sich hat“, sagte Stefan, „ich würde es gern verstehen.“

      Martina nickte ernsthaft. Anders als Ludwig sah sie die neusten Entwicklungen skeptisch; was sie jedoch mehr noch als die Herstellung künstlicher Embryonen zu Forschungszwecken beschäftigte, waren die jungen Menschen, die als erste Retortenbabys gezeugt worden waren und nun nach ihren Spendervätern zu suchen begannen.

      „Kürzlich ist eine junge Frau zu mir gekommen, um sich eine Spirale setzen zu lassen. Sie war merkwürdig verhalten, als habe sie etwas auf dem Herzen, und dann hat sie gefragt, wie sie an die Information herankommen könne, wer ihr Vater gewesen sei. Ihre Mutter will es ihr nicht sagen, und sie will auch keinen Streit mit ihr anfangen. Wer will das schon. Aber sie wüsste es so schrecklich gern, was für ein Mensch er wäre, ihr Vater.“

      „Was spielt das denn für eine Rolle“, sagte Ludwig, „sie hatte doch einen Vater, der sie großgezogen hat, das ist ihr Vater. Ich glaube nicht, dass das irgend etwas bringt. Gene werden völlig überschätzt.“

      „Hatte sie denn einen Vater? Das kannst du doch gar nicht wissen“, sagte Stefan, ungewohnt ärgerlich. (Der weggerannte Vater seiner Mutter saß ihm manchmal quer auf dem Nacken, ein böser Dämon, dem er womöglich ähnlicher war, als er dachte.)

      „Was ärgert dich denn daran?“, fragte Eva.

      „Nichts.“

      „Aber natürlich ärgert dich etwas!“

      „Nein, ich finde es nur so seltsam, dass man immer von den sogenannten normalen Verhältnissen ausgeht. Es gibt so viele alleinerziehende Mütter.“

      „Ja“, sagte Sibylle, „und es gibt ganz viele alleinerziehende Mütter, die verheiratet sind. Weil die Männer die ganze Zeit arbeiten und bestenfalls Wochenendväter sind, wie zum Beispiel Herr Dr. Ludwig Pätzold, Herr des Krebses und Leiter der onkologischen Station in der –“

      „Jetzt wirst du aber ungerecht, Sibylle, ich bin doch wirklich oft zu Hause!“

      Evas seismografischer Apparat kam auf Touren. Da war etwas im Gange. Blitzschnell sah sie zu Stefan, der in seinem Teller verschwand, dann zu Ludwig. Ludwig war tiefrot geworden. Das mochte er gewiss nicht, vor allen anderen von Sibylle angegriffen zu werden. Martina und Hartmut wichen zurück, als wollten sie sich unsichtbar machen. Wie Kinder, wenn sich die Eltern zanken. Wir sind gar nicht da, und wir platzen vor Neugier, was jetzt wohl kommt.

      „Ach, weißt du, Ludwig“, sagte Sibylle vollkommen entspannt, von ihrem Mut beflügelt, mit einer kleinen Geste über das Haar, „wir haben uns schon so an die Abwesenheit der Männer gewöhnt, wir merken das im Grunde gar nicht mehr. Ich meine, es stört uns nicht.“

      Eva, hellwach, sah Sibylle verwundert an. Woher kam denn nun dieser rebellische Zug an ihr? Sie sah zu Stefan. Sie sah zu Ludwig. Ludwig stand schon, nahm leere Flaschen vom Tisch und floh in die Küche. Eva stand auf, raffte zwei letzte Gurkengläser und folgte ihm.

      „Lass doch“, sagte Sibylle, „Ludwig, lass doch. Renn doch nicht weg.“

      Eva war Ludwig direkt auf den Fersen. In der Küche legte sie ihm die Hand auf die Schulter.

      „Ludwig!“ Sie dachte, er würde platzen. Er drehte sich um, alle Spannung wich, er ließ die Schultern fallen, die Mundwinkel, das ganze Gesicht, alles, und sah sie traurig an.

      „Weißt du was“, sagte er, „sie hat recht. Und weißt du, was noch schlimmer ist: Ich leide darunter! Aber was soll ich denn tun? Verdammt noch mal, was soll ich tun?“

      Eva umarmte ihn wie ein Kind. Er liebte sie in diesem Moment, das fühlte sie, er liebte sie so, dass er sie fest an sich drückte.

      „Ist ja gut“, sagte sie, „ist ja gut. Du machst es, so gut du kannst, ich weiß das.“

      Eine Liebe, die sie teilte, der sie antwortete, in der Küche zwischen Töpfen, Salatschüsseln und ungespülten Tellern. Sie hätte am liebsten geheult. Sie wäre am liebsten selbst von ihm getröstet worden. Weil es eine vollkommen unkörperliche, und dabei den Körper vollkommen durchdringende Liebe war, eine Liebe, die keine Sprache finden konnte und die beide traf. Gab es womöglich auch eine körperliche Liebe, die nicht erotisch war oder nicht sexuell? Verwirrend war das, so oder so.

      Und oh, Ludwig hatte seine innere Auster schon wieder zugeklappt. Verflucht, diese Männer aber auch, vielleicht aber auch zum Glück, wer weiß, wer weiß das alles schon.

      „Los, komm“, sagte Eva und schniefte ein bisschen, wie es ihre Art war, „wir gehen jetzt zurück und machen uns einen lustigen Abend.“

      Warum eigentlich, dachte sie, warum sage ich das? Warum bleiben wir nicht einfach hier in der Küche und betrinken uns mit Schnaps?

      „Geh schon“, sagte Ludwig und kippte Essensreste von den Tellern in den Mülleimer, „ich komme gleich.“

      „Nicht gleich“, sagte Eva, „sofort!“

      „Nicht, was du denkst“, sagte Ludwig, „ich muss mal wohin.“

      „Erst mitkommen, dann pinkeln, los“, und Eva schubste ihn und drückte ihm die Nachtischschüssel in die Hand, und sie gingen zum Tisch zurück, als hätten sie etwas ausgefressen, sehr zum Vergnügen der anderen.

      „Hast du von dieser Untersuchung gelesen, nach der dreißig Prozent aller Kinder in Ehen außerehelich gezeugt wurden?“, fragte Sibylle gerade Stefan. Sie war ganz munter. Sie verteilte Teller für die Mousse au chocolat. Martina und Hartmut waren begeistert. Es war besser als Fernsehen. Gleich würde es Bekenntnisse hageln.

      „Was?“

      „So viele?“

      „Nein!“

      „Doch!“

      Nein, nein, doch keine Bekenntnisse, völlige Fehleinschätzung, alles vorbeigeflogen, wäre ja noch schöner. Sie sahen sich alle an und fingen an zu lachen. Die Klippe war genommen, die Situation gerettet oder wie man sonst noch sagen könnte, obwohl es eigentlich hübsch wäre, mal was anderes, so eine kleine Eskalation, aber gut, man wollte sich doch einmal erholen und amüsieren und überhaupt, das war doch alles gar nicht wirklich. Und na!, rief Eva, wenigstens sehen unsere Kinder Ludwig und Stefan ähnlich, und der Abend wurde lustig, weil die Männer lieber Witze machten und Komplimente, als sich allzusehr auf den Gedanken einzulassen, dass paternitas semper incerta, oder Vaterschaft nur eine legale Fiktion, und dass es vielleicht gut sein könnte, die ganze Fortpflanzerei abzukoppeln vom Natürlichen, unter Kontrolle zu bringen in Gläsern und Labors und künstlichen Gebärmüttern. Und die gleichzeitig erschraken und es doch nicht wollten, nein, nein, um keinen Preis, denn sie liebten ihre Mütter, ihre Wärme, ihre Kälte, ihre Haut und ihren Duft, und allem zum Trotz und überhaupt eben doch und vielleicht sogar ihre Frauen. Und die Frauen wollten nicht, dass ihre Männer zweifelten und traurig würden ob ihrer schrumpfenden und trotz allen Vorsitzen und leitenden Posten womöglich fraglichen gesellschaftlichen Bedeutung und ihre Lust verlören an allem und ihnen, zumal und weil sie selber Angst hatten vor dem, was sie sein könnten, wenn sie einmal zupacken würden und die Augen aufsperren und hören, was in ihren Ohren klang wie der Gesang vergessener Sirenen, und ein richtiger Kampf beginnen würde mit den Männern, und zwar nicht über die Einteilung des Haushaltsgeldes und wohin sie in die Ferien fahren würden und wer sich wie viel Stunden um die Kinder zu kümmern hätte und wessen Arbeit wichtiger wäre und überhaupt, sondern um etwas ganz anderes, richtig Großes, Verwirrendes und Unbekanntes. Und Eva sah Stefan an, und Stefan trank noch ein Glas und noch eins, du lieber Himmel, wie würde sie den nur nach Hause kriegen, am besten, sie übernachteten hier, und er fing an zu erzählen, redete und redete, über Opernregisseure und Dirigenten und Diven, ihre Eigenheiten und die Kostüme, die er bei der Vorstellung nur sehen konnte, wenn sie an den vorderen Rand der Bühne kamen, und die er sich sonst vorstellen musste, wenn er gerade mal nicht spielte, sondern auf dem Blatt die Noten mitlas oder sich hinreißen ließ, mit der Bassklarinette Ernst zu scherzen,