Plötzlich riss er wie elektrisiert die Augen auf, krempelte seinen rechten Ärmel hoch und betrachtete den Arm, der darunter zum Vorschein kam. In der Nähe des Ellenbogens war ein großer blauer Fleck zu sehen, und das Gewebe wirkte ein wenig geschwollen. Als Stephan genauer hinsah, entdeckte er feine Schorfspuren, die durch die dunkle Färbung der Haut schwer zu sehen waren.
»Du Mistsau!«, entfuhr es ihm, denn auch er hatte schon Zombiefilme gesehen, und wusste daher, dass man selbst zu einem der Freaks wurde, wenn sie einen bissen. Zumindest, was man so als »wissen« bezeichnen konnte, denn die Filme hatte sich jemand ausgedacht, aber das hier war die Realität.
Stephan hatte sich aus der ganzen Sache bislang heraushalten können. Als es »dort draußen« ernst geworden war, hatte er sich krankgemeldet, obwohl ihm seine Arbeit bei der Post eigentlich viel Spaß machte. Aber es gab einfach Dinge, die waren wichtiger. Er hatte die Zeit, die ihm der »gelbe Urlaubsschein« verschafft hatte, dazu genutzt, seine Vorräte aufzustocken, so gut es eben ging, und sich dann hierher zurückgezogen. Aber wie es aussah, hatte ihn die Sache nun doch eingeholt. Was sollte er also tun?
Eine Weile kratzte sich Stephan nachdenklich am Kopf, dann zuckte er mit den Schultern und tat das, weswegen er überhaupt in den Vorgarten gekommen war. Um alles andere konnte er sich später noch kümmern, und falls er wirklich ebenfalls ein Freak werden würde, dann wollte er hier wenigstens alles ordentlich zurücklassen.
»Na, Anton, alles klar bei Dir?«
Beinahe zärtlich hob Stephan den Gartenzwerg, den der Zombie gestern Abend umgestoßen haben musste, auf und betrachtete ihn sorgfältig von allen Seiten. In einer Falte der grünen Schürze des kleinen Kerls hing ein wenig Erde, die Stephan vorsichtig entfernte, bevor er Anton wieder liebevoll an dessen angestammten Platz zurückstellte.
Ansonsten schien hier draußen alles so zu sein, wie es sich gehörte, also war nun das Schlafzimmer an der Reihe. Der ungebetene Besucher zahlte keine Miete, was ihm jetzt den verdienten Rausschmiss einbrachte. Die Kündigung hatte Stephan ja bereits gestern Abend in Form einer Reihe kräftiger Hiebe persönlich überbracht, das sollte eigentlich unmissverständlich gewesen sein, und den Rechtsweg gab es ja nun offenbar nicht mehr.
Stephan holte einen großen Eimer und eine Schaufel aus der Garage, zog sich ein Paar Gummihandschuhe über und betrat entschlossen sein Schlafzimmer.
»Boar, Alter, Du stinkst vielleicht!«, erklärte er dem Ding in der Zimmerecke. »Da brauchst du dich aber auch nicht zu wundern, wenn dich keiner bei sich haben will.«
Langsam begann er, die Überreste des Schädels zusammen mit allem anderen, was einen mehr flüssigen als festen Eindruck machte, in den Eimer zu schaufeln. Als dabei der obere Teil des Torsos zum Vorschein kam, in dem Luft- und Speiseröhre sowie das eine Ende der Wirbelsäule deutlich zu erkennen waren, begann Stephans Magen erneut zu rebellieren.
Schnell ging er ans Fenster, das er bereits beim Hereinkommen geöffnet hatte, um den Gestank nach draußen zu lassen, und nahm ein paar tiefe Atemzüge. Er ließ den Blick eine Weile über den Waldrand schweifen und lauschte dabei dem Zwitschern der Vögel. Ja, da draußen würden die Reste des Freaks gut aufgehoben sein, dort konnte er sich wenigstens noch als Dünger nützlich machen.
*
Gegen Mittag hatte Stephan alles soweit erledigt. Die Überreste des Zombies erfreuten die Würmer im Wald, das Schlafzimmer war wieder blitzblank geputzt, die eingesaute Stelle der Raufasertapete frisch gestrichen. Stephan war mit sich und der Welt zufrieden, bis sich sein Magen erneut meldete und ihn nachhaltig daran erinnerte, dass es Zeit fürs Mittagessen war.
Stephan fand, dass er sich zur Belohnung ein wenig Abwechslung auf dem Speiseplan verdient hatte, daher wollte er eine kleine Einkaufstour unternehmen. In einem der Läden und Restaurants entlang der Aachener Straße sollte sich doch irgendwo noch die eine oder andere Leckerei auftreiben lassen.
Da zu befürchten stand, in Königsdorf auf weitere Zombies zu treffen, packte Stephan zur Sicherheit seinen Baseballer, der ihm diesbezüglich ja bereits gute Dienste geleistet hatte, in den Rucksack, den er sich mit einer schwungvollen Bewegung umhängte, nachdem er sein Fahrrad aus des Garage geholt hatte.
Der Regen vom Vorabend hatte sich verzogen, und die Sonne ließ sich immer öfter zwischen den Wolken blicken. Vom schöner werdenden Wetter sowie der Aussicht auf ein besonderes Mittagessen beflügelt, pedalte Stephan munter seinen Ziel entgegen, wobei er die Melodie von »Joh, mir san mi’m Radl doh!« pfiff. Er liebte Volksmusik und bedauerte zutiefst, dass er wohl so schnell keine entsprechende Veranstaltung mehr würde besuchen können.
Was wohl aus dem Flori und seinen Kollegen geworden ist?, schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf. Na, ihre CD-Verkäufe dürften auf jeden Fall ganz schön eingebrochen sein.
Stephan hatte sich als Junge am Erlernen eines Musikinstruments versucht, um im örtlichen Musikverein mitspielen zu können, dabei aber feststellen müssen, dass er völlig taktlos war. Daran hatte auch ein später von der Schule organisierter Tanzkurs, der ihn hätte auf den Abschlussball vorbereiten sollen, nichts ändern können.
Wie es seine Art war, hatte ihn das jedoch nicht wirklich lange beschäftigt. Die Mädchen seines Jahrgangs, die er mit der Tanzerei vielleicht hätte beeindrucken können, interessierten ihn nicht wirklich, und Musik konnte man auch beim Hören genießen, wozu man schließlich mehr Zeit hatte, wenn man diese nicht mit Üben verbringen musste.
Stephan war schon immer ein wenig anders als die anderen Jungs seines Alters gewesen. Weder in der Schule noch später als Erwachsener hatte er viele Freunde gehabt. Seine Kollegen hatten ihn durchaus geschätzt, immerhin war er jederzeit bereit gewesen, ihre Bezirke zu übernehmen, wenn sie einen Tag frei haben wollten, aber echte Freundschaften hatte er nie geschlossen, an keinem Betriebsfest oder Ausflug teilgenommen. Er machte sich nicht viel aus menschlicher Gesellschaft, ging lieber alleine im Wald spazieren oder hörte Musik.
Als die Welt da draußen allmählich in sich zusammenfiel, die Menschen wie die Fliegen starben, um als Zombies wieder aufzuerstehen, hatte ihn das nicht sonderlich berührt. Die Welt verfiel mit lautem Getöse in die letzte Stille, und das war okay so. Stephan liebte die Stille.
Er hatte sich auch nie einsam gefühlt. Er war allein, weil er das so mochte. Angst war für ihn auch etwas, dass nur gedämpft zu ihm durchdrang. Während er mit dem Rad durch die leere Welt fuhr, beschlich ihn noch nicht einmal ein leichtes Gefühl der Beklemmung, denn die Ruhe war angenehm. Ob Julia jetzt wohl auch ruhig war?
Mit einem misstönenden Pfiff endete seine Interpretation des alten Gassenhauers. Hier und jetzt wollte er nicht an sie denken, denn auch wenn er keine Angst verspürte, dufte er nicht unvorsichtig werden! Und der Gedanke an Julia brachte ihn immer dazu, ein wenig … abgelenkt zu sein.
Schließlich bog Stephan in der Nähe des Ortseingangs auf die Aachener Straße ein und hielt an. Er spähte die Fahrbahn entlang und hielt dabei nach verdächtigen Bewegungen Ausschau. Gleichzeitig strengte er seine Ohren an, ob vielleicht irgendetwas zu hören war, das nach Gefahr klang.
»Besser, ich gehe ab hier zu Fuß weiter«, murmelte er und lehnte seinen Drahtesel an einen Laternenpfahl. Kurz dachte er darüber nach, ob er sein Fahrrad abschließen sollte, dann winkte er ab. Die Freaks fuhren nicht Rad, wer also sollte es stehlen wollen?
*
Der Supermarkt, den Stephan als erstes angesteuert hatte, erwies sich als Reinfall. Die Regale waren größtenteils geplündert, was sich noch darin befand, nicht mehr zu gebrauchen. Er war gerade im Begriff, sich in dem Bereich, der eigentlich den Angestellten des Marktes vorbehalten war, umzusehen, als er hinter der betreffenden Tür ein Rumpeln vernahm. Mit einem »Schade, schon besetzt« wandte er sich zum Gehen und sah zu, dass er aus dem Markt kam, ohne dass ihn das Ding dort drinnen bemerkte, denn im Moment war ihm nicht nach weiterer sportlicher Betätigung.
Als nächstes nahm er sich ein Restaurant vor, das früher für seine hervorragende Küche bekannt gewesen war, wobei dieses »früher« eigentlich gar nicht lange zurücklag, obwohl