Martin schluckte. Bilder kamen in ihm hoch, die er gerne dort gelassen hätte, wo sie bis zu diesem Augenblick gewesen waren. In einem dunklen und verlassenen Winkel seiner Erinnerungen.
»Ich bin eine Vollwaise«, sagte er leise. »Meine Eltern starben, als ich Vier war. Ich bin in Pflegefamilien groß geworden.«
»Pflegefamilien?«, fragte Stark nach. »Plural?«
Martin atmete tief durch.
»Ja. Insgesamt bei vieren.«
Sandra kam auf ihn zu. In ihrem Blick vermischten sich Mitleid und Härte, als sie ihm eine Hand auf die Schulter legte.
»Martin, es könnte eine Erklärung für all deine Probleme sein, dass du einfach einen körperlichen Defekt hast. Nichts Schlimmes, aber niemand hat es offenbar je für notwendig erachtet, dich mal ordentlich auf den Kopf stellen zu lassen oder dir diese Möglichkeit als Grund zu nennen. Und wenn du in derartigen Verhältnissen aufgewachsen bist ...«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich will deine Sucht ja nicht rechtfertigen, aber verstehen kann ich sie. Zumindest ansatzweise. Aber ich halte sie auch für eine ziemlich feige Reaktion. Du hattest als erwachsener Mensch lange genug die Chance, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Jetzt ist es zu spät, und wir alle hier sind in einer Situation, die keinerlei Fehler oder Schwächen verzeiht. Also reiß dich zusammen.«
»Und wenn ich es nicht schaffe?«
»Dann wirst du zu einem Klotz an unserem Bein.«
Kapitel IX - Der Mann ihrer dunklen Träume
Gabi träumte.
Sie träumte eigentlich immer sehr intensiv, und konnte sich auch immer an ihre Träume erinnern. Aber so intensiv wie dieser, war schon lange keiner mehr gewesen. Gabi wusste, dass sie träumte. Aber sie wusste auch, dass dieser Traum nur die Realität erneut abspielte. Eine vergangene Realität, die sie nicht würde ändern können. Sie konnte ihren Träumen ebensowenig davonlaufen, wie sie in der Lage war die Vergangenheit zu ändern. Und mit dieser Erkenntnis ergab sie sich schließlich ihrem Traum.
*
Gabi lief.
Sie lief um ihr Leben, ihr Atem brannte ihr in der Lunge, und nicht zum ersten Mal wurde sie sich bewusst, dass sie anders war als andere Kinder. Nicht so anders wie Tom, der nur einen gesunden Arm hatte, oder wie Kurt und Karl, wo der Eine nicht sprechen und der andere nicht hören konnte. Und nein, es war auch nicht ihre Fähigkeit die Kraft der anderen bündeln zu können. Eine Kraft die sie, gleich ob behindert oder nicht, sowieso von allen anderen Kindern und Erwachsenen unterschied. Nein, Gabi wusste dass sie vollkommen anders war, als die Anderen, und dieses Anderssein bezog sich nur auf ihren Körper, den sie manchmal regelrecht hasste. Diesen unbeholfenen und plumpen Fleischsack.
Und dazu kam, dass in ihrem Traum der Asphalt unter ihren Füßen zu einem gierigen Monster wurde, das sie festhielt, jeden kraftvollen Schritt in ihrem Traum zu einem hilflosen Tippeln werden ließ, sie scheinbar auf der Stelle festhielt, während SIE hinter ihr her waren.
Gabi lief im Traum vor den Wesen weg, die sie Knirscher getauft hatten, verfluchte schluchzend ihren tumben Körper, der so ungraziös war und ihr jetzt ein Hindernis statt einer Hilfe war.
Eigentlich hatte sie sich nicht so weit von den anderen entfernen wollen, als sie in den Autos nach lebenswichtigen Dingen gesucht hatten. Aber irgendwie hatte sie die anderen verloren. Es war, als wäre eine Stimme in ihr gewesen, die sie leise rief und von den Anderen weggelockt hatte. Vielleicht war es der leise Ruf einer bösen Hexe, wie der aus dem Märchen?
Nein, entschied Gabi, während sie im Traum immer noch versuchte, wegzulaufen und ihre Füße im zähen Schlamm flüssigen Asphalts stecken blieben. Es war keine böse Hexe gewesen, die sie gerufen hatte.
Es war viel schlimmer.
Es war der dunkle Mann gewesen.
Und sie hatte ihn gesehen!
Ihn, seinen Schergen und die Knirscher, die den Befehlen seines Schergen folgten.
Und wer dem dunklen Mann ins Antlitz sah, für den war der Weg ins Verderben festgeschrieben und unabwendbar.
»Aber aber, meine Kleine ...«
Da war sie! Die Stimme des dunklen Mannes, ganz nah an ihrem Ohr. Mit einem kalten Hauch, der nach Tod und Verwesung und noch viel Schlimmerem roch!
»Findest du wirklich, ich sollte ein Pfefferminz zu mir nehmen?«
Mit einem entsetzten Wimmern drehte Gabi den Kopf, wollte nicht sehen, musste aber sehen, wusste, dass ER es sein würde, der neben ihr schwebte und sie spöttisch mit seinem metallischen Haifischgrinsen ansah, wusste, dass sie aus dem Tritt kommen würde, sollte sie sich wirklich umdrehen und konnte dennoch die Realität nicht ändern.
Was geschehen musste, würde geschehen.
Sie versuchte weiter zu fliehen, schlängelte sich unbeholfen durch die verlassenen Autos, wandte dabei ihren Blick der Stimme neben ihrem Ohr zu ... und fiel hin!
Etwas riss an ihrem Bein. Es brannte höllisch an ihrer Wade. Die Stimme war weg, der dunkle Mann nicht zu sehen. Aber die Knirscher ... die konnte sie ganz deutlich hören.
Weinend setzte sie sich auf. Ihre Hose war ein Stück über ihrem Knöchel leicht eingerissen. Ein kleiner Blutfaden lief in ihre Socke. Gabi zitterte am ganzen Körper. Wo waren die Anderen?
Sie stand auf.
Da!
Sie sah Martin, der sich durch die Autos auf sie zuschlängelte. Mit einem erleichterten Laut auf den Lippen wollte sie ihm entgegenstürmen ... und stolperte erneut.
Eine Hand war unter dem Auto hervorgekommen! Und mit der Hand eine Schulter, ein Kopf ... das Ding zog sich an ihrem Bein unter dem Auto hervor. Gabi sah vor Schreck erstarrt auf das Schauspiel. Der Knirscher zog sich vollends unter dem Auto hervor. Sein Mund war gierig geöffnet, in seinen toten Augen brannten heißer Hass und dunkler Hunger. Gabi wollte gerade ihr Bein aus der Umklammerung des Toten ziehen, als sie etwas sah, dass sie vollends lähmte.
Der Knirscher hatte keine Beine mehr! Unterhalb seiner Taille hing ein Fetzen seines Rückgrats auf dem Boden, zerfetzte Darmschlingen folgten dem zerstörten Körper wie grausige Festtagsgirlanden.
Instinktiv riss sie ihr verletztes Bein zurück.
»Zier dich nicht so, meine Kleine.«
Da war er wieder! Der dunkle Mann! Aber wo?
»Ich bin überall, meine Kleine, und du kannst nicht entkommen. Denn weißt du, du bist mongoloid und deshalb plump. Das schreibt man M-O-N-«
Ein heißer Schmerz schoss durch Gabis Bein! Sie sah wie der Knirscher versuchte den Stoff ihrer Jeans zu durchbeißen. Erneut sammelte sie alle Kraft, riss ihr Bein zurück und dem Knirscher die Zähne aus dem Mund. Mit einem Blick, der in seiner Verblüffung in einem Film komisch gewesen wäre, sah der Untote auf seine Dritten Zähne, die an der Naht von Gabis Jeans hängen geblieben waren. Sie schrie vor Entsetzen auf, versuchte aufzustehen und ...
*
... erwachte mit tränennassen Augen.
Der gleichmäßige Atem der Anderen war ein Metronom der Ruhe, das sie allmählich beruhigte.
Keiner hatte etwas bemerkt. Das war gut, aber auch nicht verwunderlich. Gabi konnte, wenn sie es wollte, ihre Gedanken vor den Anderen abschirmen, ihre Geheimnisse für sich behalten.
Und es war ja auch nichts passiert. Der Knirscher hatte sie nicht gebissen. Sie waren in Sicherheit. Aber warum brannte dann ihr Bein so schlimm?
Gabi versuchte sich zu beruhigen, den Schmerz in ihrem Bein zu ignorieren.