Graf von Galen schätzte diesen Albert vor allem deswegen, weil er fromm und gottesfürchtig, zugleich aber auch ungemein wissbegierig war. Für seinen niederen Stand ein sehr intelligenter, kluger Kopf. Und kluge Köpfe schätzte der Graf, ob hoch oder niedrig geboren. Besonders gefielen ihm aber Alberts korrektes akzentfreies Deutsch und seine gute Ausdrucksweise. Zudem konnte er gut und unterhaltend erzählen. Albert schätzte den Grafen ob dessen Gradlinigkeit und Menschenfreundlichkeit und der Hilfe, die er ihm, dem armen Schreiner, gewährte, indem er ihm bei seinem Bestreben half, Bildung zu erlangen.
»Nun Albert, was liest du gerade, was erzürnt dein Gemüt, ich sehe es dir am Gesichte an«, scherzte der Graf.
»Den Artikel über die Begnadigung dieses »Hauptmanns von Köpenick.«
»Ja, das ist eine recht merkwürdige Geschichte, ganz Deutschland lachte darüber, und nicht nur Deutschland, ich glaube die ganze Welt lachte uns aus.«
»Der Kaiser war noch stolz darauf«, entgegnete Albert stirnrunzelnd, »er soll zu dem Polizeipräsidenten gesagt haben, dass uns das auf der ganzen Welt keiner nachmache. Dieser mickrige Schuster hat ohne es zu ahnen das ganze System lächerlich gemacht.«
»Ich weiß, du bist kein Freund des Militärs«, schmunzelte Galen.
»Das stimmt, das bin ich nicht. Wer in unserer Gesellschaft nicht gedient hat, ist kein vollwertiger Mensch. Ich habe nicht gedient, weil meine älteren Brüder alle gestorben sind. Ich habe auch kein Verlangen nach dem Militär. Drill, Schikane und Prügel habe ich auch so genug bezogen, dafür benötige ich das Militär nicht. Dieser Hauptmann hat mit seiner Aktion die Lächerlichkeit des bürgerlichen Systems offengelegt, mit einer Uniform und ohne Legimitation. In Deutschland kann jeder mit einer Uniform und ohne Legitimation Dinge tun, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Das ist blinder Obrigkeitsglaube und wohin soll das führen?«
»Aber die Obrigkeit und Stände sind gottgegeben, wir werden auf unseren Platz gestellt und müssen gehorchen.«
»Nur das einige bessere Plätze haben als andere«, entgegnete Albert stirnrunzelnd
»Du bist ja ein Anarchist Albert«, lachte Galen.
»Nein Hochwürden, das sicher nicht. Ich fürchte Gott und stehe fest zu den Lehren unserer heiligen katholischen Kirche. Aber Jesus war ein einfacher Schreiner und kein Adliger. Ich verachte die Kommunisten und Sozialdemokraten, denn sie sind gottlose Gesellen.«
Graf Galen zündete sich eine Zigarre an und hielt Albert das Zigarrenetui hin. Albert machte eine ablehnende Geste, während Galen genüsslich an seiner Zigarre zog.
»Ach ja, du rauchst ja nicht, trinkst auch nur ganz wenig Alkohol, du bist ein Muster an Seriosität.«
»Ach Hochwürden«, entgegnete Albert, »so würde ich das nicht sehen. Das Rauchen ist mir zu teuer und der Alkohol ist ein Werk des Teufels. Gerade in meiner Schicht gehen viele daran zugrunde. Er ist ein billiger Tröster, aber er führt in den Abgrund. Damit mache ich mich nicht kaputt.«
»Recht hast Du«, bestätigte Galen.
»Meine Heimat sind die Kirche und der Kolpingverein. Der Glaube gibt mir Halt und Stütze. Ich halte die Gebote Gottes und möchte danach leben. Ich besuche regelmäßig den Gottesdienst und empfange die heilige Kommunion.«
»Das ist auch lobenswert, mein Freund. Keiner hier im Haus ist darin so eifrig wie du.«
»Es ist der Glaube meiner Vorfahren, dem ich auch diene. Daher lese ich die heiligen Schriften, um noch besser zu verstehen. Die Bibel natürlich, aber auch das Leben der Heiligen und die von Ihnen so sehr empfohlene Nachfolge Christi des Thomas von Kempen. Ich achte den Papst, die Bischöfe und Priester als Diener Gottes. Was ich bei den Priestern aber nicht ausstehen kann, sind die Vertreter des typischen Herrenstandpunkts.«
»Albert«, unterbrach ihn hier lachend von Galen, »du bist doch ein verkappter Anarchist, leugne es nicht. Aber so ganz Unrecht hast du nicht. Nur habe ich jetzt keine Zeit mehr, mit dir darüber zu reden. Lass uns dieses Gespräch ein anderes Mal weiterführen. Hast du heute nicht zu arbeiten?«
»Mein Auftraggeber hatte heute keine Zeit, daher entfiel meine Arbeit. Kann ich Ihnen helfen?«
»Das trifft sich gut, könntest du in meinem Studierzimmer einmal nach einem Regal schauen, es scheint mir etwas wackelig und ich habe immer Angst, dass mir alle Bücher herunterfallen.« Graf Galen schätzte Albert zudem ob seiner hervorragenden Arbeit, die er als Schreiner leistete.
»Das mache ich gerne«, entgegnete Albert spontan, »kann ich nach dem Mittagessen kommen?«
»Einverstanden«, erwiderte der Graf und gab Albert die Hand. Daraufhin verließ er den Lesesaal und Albert kehrte unverzüglich an seine unterbrochene Lektüre zurück.
Alltag
1.
Michael begann sich in seiner Wohnung auf den Dienst vorzubereiten. Er zog seine Postuniform an, und nahm von Anna seine Brote in Empfang. Noch schnell einen Abschiedskuss und er war durch die Türe. Anna winkte ihm mit ihrem kleinen Sohn auf dem Arm nach.
Im Treppenhaus begegnete er seinem Nachbar Silberstein. Dieser wohnte unter ihm mit seiner jungen Familie und auch erst kurz hier eingezogen. Er war der Sohn des Hausbesitzers, dem auch das Nachbarhaus, in dem ebenfalls mehrere Parteien wohnten, gehörte und der dort wohnte. Es waren reiche Juden, der Vater besaß ein großes Konfektionsgeschäft in der Stadt. Sein Sohn Jaakov war Rechtsanwalt oder Referendar, das wusste Michael nicht so genau. Man kannte sich noch nicht so gut.
Die beiden grüßten einander sehr artig und gingen ihrer Wege.
Michael sinnierte ein bisschen auf dem Weg zur Arbeit, das Hauptpostamt lag nur etwa fünf Minuten von seiner Wohnung in der Metzelstraße entfernt. Jaja, diese Juden, dachte er, haben Geld wie Heu, es klebt sozusagen an ihnen.
Michael hatte eigentlich nichts gegen sie. Er wohnte sogar im Judenviertel der Stadt. In seiner Straße wohnten viele und eine Querstraße weiter auf dem Zuckerberg lag die Synagoge. Trotzdem hegte er eine leichte Abneigung gegen sie. Das war aber nicht böse gemeint und ging auch nicht sehr tief. Als guter Katholik schaute er schon deshalb auf sie herab, hatten sie doch unserer Herrn Jesus ans Kreuz geschlagen. Das jedenfalls sagten die Kirche und die Priester. Michael war kein ledernder Theologe, das Thema interessierte ihn nicht sonderlich, er fühlte sich als guter und linientreuer Katholik. An theologischen Spitzfindigkeiten war er nicht interessiert. Als guter Katholik wählte er das Zentrum und war Mitglied in der Marianischen Bürgersolidarität. Dort hatten allerdings die Juden nichts zu suchen.
Diese Silbersteins waren trotz ihres Reichtums anscheinend recht nette Leute, und dass sie Juden waren, merkte man kaum. Anna hatte sogar mit Frau Silberstein schon einige Worte gewechselt und sie schienen ganz in Ordnung. Natürlich standen sie auf der bürgerlichen Stufe höher als sie, Michael war Postbote und Anna Schneiderin. Aber Michael war fest entschlossen, gesellschaftlich aufzusteigen und Anna nahm ob ihrer Intelligenz die Sympathien ihrer Nachbarin ein. Anna sprach ein fehlerfreies Hochdeutsch und konnte sich gut ausdrücken. Sie fühlte sich als Städterin, war hier geboren und die Tochter eines königlich preußischen Postillion.
Michael erreichte das Hauptpostamt und ging an seinen Arbeitsplatz. Er war hier gut gelitten, galt als angenehmer und ausgezeichneter Kollege, wurde von seinen Vorgesetzten ob seines Fleißes, seiner Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit hoch geschätzt. Es war ihnen auch schon aufgefallen, dass er sich schriftlich und mündlich sehr gut ausdrücken konnte. Sie gaben ihm zu verstehen, dass sie ihn für höhere Aufgaben durchaus geeignet hielten.
Diese