Verdorbene Jugend. Horst Riemenschneider. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Horst Riemenschneider
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783938555446
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in die Richtung zu unserem Betrieb ab. Bald sahen wir drei große Löcher, die Bombentrichter. Wir erkannten auch, dass die Bomben fast in den Betrieb gefallen wären. Das abwerfende Flugzeug hatte genau die Richtung zur Mitte des Betriebes gehabt und die Bomben zwei oder drei Zehntelsekunden zu früh ausgelöst. Der letzte Trichter war am Rand des Hanges, der zum Betrieb abfiel. Und der war steil. Wir konnten das alle gar nicht fassen. Keiner von uns hatte ein Flugzeugbrummen oder die Bombeneinschläge gehört. Wir redeten von einem Geisterflugzeug. Später, in den letzten Kriegsmonaten wurde die gesamte Lauterbergsiedlung, wo vor allem Gustloff-Arbeiter wohnten, von Bomben zerstört.

      Als ich in den 1980er Jahren einmal kurz dort oben war, fand ich zwar neue Häuser aber nicht die alte Struktur wieder. Tante Lotte war 1942 in das Stadtzentrum von Suhl gezogen.

      Ich kann nicht genau sagen, ob die Fahrradtour nach dem Städtchen Römhild vor oder nach den Ferien statt fand. Jedenfalls durften alle, die ein Fahrrad besaßen, bei dieser Tour mitfahren, egal in welchem Lehrjahr sie gerade waren. Ich hatte kein Fahrrad und hätte mir auch keines kaufen können. Der Betrieb verkaufte damals noch Fahrräder zum Preis um die 70 bis 80 Reichsmark. An diesen Fahrrädern war die Bezeichnung BSW, was die alte Betriebsbezeichnung war und Berlin-Suhler-Waffenwerk bedeutete. So ein Fahrrad hatte ich mir gewünscht, aber mein Weihnachtsmann hatte kein Geld und verzichten hatte ich inzwischen gelernt.

      Bald war auch die Möglichkeit nicht mehr gegeben, ein solches Fahrrad zu erstehen. Doch irgendwie hatte ich herausbekommen, dass bei Tante Lotte ein Damenfahrrad herumstand. Ich ging also dahin und fragte, ob sie mir das leihen würde. Mit zögern und zaudern stimmte sie zu. Sie benötigte es dringender, als zu einer Fahrradtour. Nun konnte ich doch mitfahren.

      An dem vorgesehenen Sonnabendnachmittag ging es los. Vor Themar hatte ich einen Platten. Haider beorderte einen zweijährigen Lehrling zu mir, der den Weg kannte und der etwas mehr Ahnung vom Flicken hatte als ich. Die Panne erwischte mich bei der Abfahrt nach Themar. Wir fuhren nicht sehr schnell, denn Haider hielt das Tempo so, dass man gefahrlos anhalten konnte. Als wir in Themar ankamen, wartete noch ein weiterer zweijähriger Lehrling auf uns. Zu dritt ging es dann die Straße in Richtung Römhild hoch. Die Gleichberge, die durch einen Sattel verbunden sind, waren links von unserer Fahrtroute zu sehen. Bald waren wir in Römhild. Unser Ziel war das Kinderheim in dieser Stadt.

      Es war wohl so, dass man zwischen beiden Heimen Verbindung hielt. Die Heimkinder hatten dadurch bessere Möglichkeiten, einen guten und gefragten Beruf zu erlernen. Ich erfuhr, dass Robert Kleingünter, unser Stubenältester, auch aus diesem Heim stammte. Geboren war er aber in Österreich.

      Das schönste war aber, dass in diesem Heim ein kleines Schwimmbad war. Wir konnten uns nach Herzenslust im Wasser tummeln. Das war die schönste Badegelegenheit die ich jemals hatte. Wir konnten bis zum Dunkeln im Wasser bleiben. Übernachtet haben wir auf einem Dachboden von einem Nebengebäude des Heimes. Früh ging es gleich mit einem kühnen Sprung ins Wasser. Am Nachmittag traten wir die Heimfahrt an, die ohne Probleme vonstatten ging.

      Es ging auf den Herbst zu und im Betrieb kamen Studenten aus Jena zum Einsatz. Man hatte vor, gemeinsam mit den Studenten und den Lehrlingen des Lehrlingsheimes einen Abend zu gestalten. Nun war gefragt, was wir dazu alles beitragen können und wir sollten uns etwas für diesen Abend einfallen lassen. Mit dem Einfallen war das kein Problem, waren wir doch aus sehr vielen Gegenden Deutschlands zusammengewürfelt und viele kannten einen Sketsch oder andere spaßige Dinge.

      Nun wurde ausgeknobelt, was man alles anstellen wollte. Es war bekannt, dass der Betriebsberufsschulleiter Dr. Wacker zugegen sein und auch übernachten würde. So war nun vorgesehen, dass einer, der einen Clown spielen sollte, mit Hüsings Luftgewehr über dem dunklen Anzug von Dr. Wacker eine Portion Mehl verschießen sollte. Das sollte die Krönung werden. So war es dann auch. Den Clown spielte der Lehrling Schönfelder, der aus der Sonneberger Ecke stammte. Er hatte dann alles in der Hand und wir hielten uns die Bäuche vor lachen. Der Mehlschuss wurde natürlich vorher ausgetüftelt, bis er so ankam, wie man sich das vorgestellt hatte. Keiner hätte gedacht, dass Schönfelder so etwas drauf hatte. Er sprach so eigenartig, dass man schon darüber lachen musste.

      Mit dem Mehlschuss sollte das so dargestellt werden, dass es dem Tell’schen Schuss glich. Schönfelder holte sich dann einfach Dr. Wacker und postierte ihn. Da man nun keinen Apfel zur Verfügung hatte, war ein Käseschachtel aus Pappe dazu auserkoren. Die hat er versucht mit der hohen Kannte auf den Kopf von Dr. Wacker aufzubringen, was natürlich nicht gleich gelang. Das ergab schon allerhand Spaß. Er versuchte das mehrmals mit den entsprechenden Kommentaren. Zuletzt sollte Dr. Wacker die Dose selbst festhalten, was er aber spaßig verweigerte. Schönfelder legte schließlich die Käsedose flach auf den Kopf und schoss nun mit dem erwarteten Erfolg. Das war der Schluss dieses Abends. In der Nacht haben Lehrlinge des dritten Lehrjahres das Gesicht des Dr. Wacker noch mit schwarzer Schuhkreme eingeschmiert, während Wacker in seinem Gästebett schlief. Das wurde vom Heimleiter nicht sehr freundlich aufgenommen.

      Die Studenten und Wacker mit Anhang schliefen in einer der Baracken, die unterhalb der Lager- oder Hohen Feldstraße lagen. Dr. Wacker war berüchtigt ob seiner Maulschellen, die er verteilte, wenn etwas nicht ordnungsgemäß oder jemand zu frech war. Die Schläge kamen so schnell, dass man Mühe hatte, das Geschehen zu verfolgen. Klatsch, klatsch und man war bedient. Mir ist es zum Glück nicht passiert. Diese Vorfälle gab es vor allen in oberen Lehrjahren, weil da die Lehrlinge schon frecher waren.

      Das Lehrlingsentgelt oder die Lehrbeihilfe gab es monatlich. Halbjährlich wurde es erhöht. Die genauen Summen sind mir entfallen. Es steigerte sich von 13 Komma und zerquetschte im ersten Halbjahr auf 28 Komma und zerquetschte Mark im sechsten Halbjahr. Für die, die noch ein siebtes Halbjahr absolvieren mussten, wie Maschinenbauer und Werkzeugmacher, gab es dann noch einmal einen Aufschlag, wonach es dann über 30 Reichsmark ging.

      Das Geld war knapp. Es reichte gerade dazu aus, den Bedarf an Essenmarken zu decken und wenn noch ein Heft, Stift oder Radiergummi gebraucht wurde, sah es schon recht dünn aus. Von den Eltern hatte ich im ersten Lehrjahr nichts zu erwarten, mussten sie doch schon die 35 Mark für das Lehrlingsheim monatlich aufbringen.

      Im Betrieb konnte man sich zum Frühstück eine Tasse „Muckefuck“ mit Milch kaufen. Die kostete fünf Pfennige. Selbst diese wenigen Pfennige konnte ich oft nicht aufbringen und bettelte mir von diesem oder jenem Lehrling einen Schluck Kaffee. Das war mir recht peinlich, aber was sollte ich tun, wenn es beim Essen recht trocken wurde im Mund. Die drei Doppelstullen, die mir der Hunger gebot hinunterzuwürgen, benötigten schon ab und zu etwas Nasses. Drei Doppelstullen bekamen wir vom Heim mit. Die waren meist vom Brot von gestern. Also etwas trocken.

      Mit dem Geld musste ich aber auch so haushalten, damit ich, wenn ich heimfahren wollte, auch noch das Fahrgeld hatte. Der Kilometer bei der Bahn kostete damals vier Pfennige. Bis Ronneburg waren es rund 150 Kilometer von Suhl. Nach Bürgel war es etwas kürzer, aber da musste ich in Jena auf den Bus umsteigen, wenn ich nicht die siebzehn Kilometer „mit dem Esel“, wie wir die Eisenbahn in Bürgel nannten, fahren und warten wollte. Also sechs Reichsmark und eine Reserve musste ich beisammen haben. Wenn ich daheim war und mein Großvater Josef hatte das mitbekommen, kam er immer heimlich, meist am Sonntag Vormittag, weil ich nachmittags fahren musste, und drückte mir ein paar Mark in die Hand. Das sollte niemand wissen. Er versuchte dabei immer, mich außerhalb unserer Wohnung zu erwischen, damit das auch meine Mutter, seine Tochter, nicht mitbekommen sollte.

      Noch einmal zu den Essenmarken, die wir täglich benötigten. Auch am Sonnabend wurde gegessen. Es waren also in einer Woche sechs mal 30 Pfennige aufzubringen. Das waren wöchentlich 1,80 RM und im Monat meistens über acht Reichsmark. Es blieb mir somit im zweiten Halbjahr etwas mehr Geld in meine Kasse.

      In einer jeden Woche hatten wir zwei Appelle. Einen Wochenanfangsappell und einen Wochenschlussappell. Zu diesen Appellen mussten wir uns in den großen Festsaal begeben. Alle