Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Fritz Haug
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783867548625
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sie hierherkommen, wenn sie durchschauen würden, welches Schicksal ihnen Jelzins Programm der Privatisierung bereiten wird? ›Freiheit‹ – rufen sie. Freiheit von der Arbeit, vom gewohnten sozialen Status, Freiheit für die anderen – die Jungen, Arroganten, Schlauen, die an ihre Stelle treten werden.«

      Die Jungen schildert sie als konformistisch, darauf bedacht, für sich etwas aus der Gesellschaft herauszuschlagen. »Von kleinen Randgruppen abgesehen, ist die heutige Jugend politisch indifferent und infantil.«

      31. März 1991

      Aggressive Naivität. – Schirrmachers Leichtigkeit kommt mir vor wie die Folge einer Gewissenlosigkeit, seine schnelle Intelligenz wie die Folge einer Abwendung. Sein Artikel über Andrej Sacharows Memoiren (in der Literaturbeilage der FAZ vom 25.3.) geradezu »amerikanisch« in seiner aggressiven Naivität. Selbstverständlicher Standpunkt der Sieger als der Guten. Die Macht im eigenen Rücken unsichtbar haltend, zeigt er die böse Macht stets beim Andern (hier Sowjetrusslands). Schönreden der »Dissidenz« von einem, dem sie nie in den Sinn kommt. Die Macht, der er dient, ist nicht besser, nur besser funktionierend. Mir scheint fast, er glaubt an das Reich des Bösen. Sollte er das tun, wäre er böse.

      In derselben Literaturbeilage feiert Rüdiger Bubner den »intellektuellen Patriotismus« Manfred Riedels und macht den »Verfassungspatriotismus« madig, weil dieser die Nation verfehle. Daneben beweihräuchert Mattenklott Enzensbergers manieristische Absagelyrik.

      Das Erstaunlichste ein langer und aufwendig geschriebener Artikel von Gustav Seibt über den Historiker Ernst Kantorowicz und dessen zwei Leben, da er nach der Auswanderung 1933 sich eine neue Wissenschaftlerkarriere in den USA aufgebaut hat. Seibt beschreibt mit beflissener Lust dessen georgeschen Hymnus auf den Staufenkaiser Friedrich II. (ein Buch von 1927, das Hitler mehrfach gelesen haben soll und das Goebbels Mussolini geschenkt hat). Es ist hochgradig fiktional in seiner Beseitigung aller Kontingenz (der Held ist stets und in jedem Detail wesentlich) oder etwa in seiner imaginären homoerotischen Wunscherfüllung einer »bis ins Alter knabenhaften«, aber desto männlicheren Körperlichkeit. Rudolf Borchardt hat das 1930 als »Umfälschung der Weltgeschichte auf Georges Posen« verspottet, die zeigen wolle, »wie George als Hannibal die Schlacht bei Cannae schlägt, während George als Scipio bei Zama den Punier abtut und dann als Cäsar ostwärts und als Ariovist westwärts den Rhein überschreitet« usw. Dreißig Jahre später dann geradezu das Gegenbuch, das just das Fiktionale in der Geschichte behandelt: Die zwei Körper des Königs. Seibts Lob unecht, weil das Lobenwollen durchlugt. Kantorowicz ist eben Jude. Hat zudem den Deutschen das Allerheiligste bereitet, den Kyffhäuser, danach sogar noch amerikanische Ehren auf sich gehäuft. So einer muss heimgeholt werden. Hier kann man studieren, wie das Pantheon erneuert wird.

      1. April 1991, Ostermontag

      Detlev Rohwedder, der Präsident der »Treuhand«, erklärt »eine reinrassige, gedanklich saubere und schnörkellose Marktwirtschaft« in der vormaligen DDR für undenkbar. Er sagt von sich, »aus einem gewissen patriotischen Eros heraus« die Stelle angenommen zu haben.

      3. April 1991

      Die RAF betreibt geradezu chirurgische Kriegsführung in der symbolischen Ordnung von Staat und Wirtschaft. Nun den Chef der »Treuhand«, auf die sich unser aller Aggressionen gerichtet hatten. Auf teuflische Weise erfüllt sie unbewusste kindische Wünsche. So verhindert sie deren politische Reifung. Rohwedder hat zur Mannschaft von Helmut Schmidt gehört. Sozial-Technokrat, Sanierer, nicht Privatisierer.

      4. April 1991

      Kathrin A. ist gespalten: Eine Hälfte von ihr trauert der untergegangenen Perspektive nach, »Staatskundelehrerin« der DDR zu werden. Eigentlich eine abscheuliche Vorstellung. Auf mich als Thema ist sie von einem Dozenten angesetzt worden, der sich inzwischen vom Marxismus abgewandt hat. Nun könnte es sein, dass sie über ihr Zufallsobjekt an diesem hängen bleibt.

      In der FAZ zeichnet Reißmüller das Bild von einer »grotesken Rück-Wende« Gorbatschows. Bei den Leuten wachse das Verlangen nach Ruhe und Ordnung, Politikmüdigkeit, Überdruss an Demokratie und Öffentlichkeit. Gegen den »Gorbatschowismus im Westen, der sich zusammensetzt aus Unterwürfigkeit, Lust an albernem Personenkult und einem verständlichen Bedürfnis, zu vertrauen und Hoffnungen zu hegen«. Was Reißmüller an G stört: »Seine sozialistischen Anschauungen (wahrscheinlich mehr Gefühle), die früher abblätterten, festigen sich wieder.« Immerhin lässt er auch eine Spur der Notwendigkeit sozialistischer Politik sehen: Bei dominanter Privatisierung käme es zu einer gigantischen, zig Millionen erfassenden »Massenarbeitslosigkeit, die sozial abzufedern der Sowjetstaat kaum imstande wäre«.

      9. April 1991

      Renate Wahsner, Philosophieprofessorin am Einstein-Laboratorium, stutzte mir meine Laienvorstellungen von neuer Physik arg oberlehrerhaft zurecht. Versicherte immer wieder, dass es hier um »Messen und Rechnen« geht, nicht um Bedeutungen, und dass man sich diesen nur mit größter methodologischer Vorsicht nähern dürfte. Ich hatte gefragt, wie Engels’ Projekt im Lichte der neuen Physik weiterzudenken sei. Wahsner ging sofort auf die Hinterbeine. Ich kriegte nicht viel mehr mit, als dass es da eine enorme Anlage aus Schutzvorkehrungen gab.

      10. April 1991

      Fast zwei Stunden lang am Prenzlauer Berg nach der Kneipe gesucht, in deren Hinterzimmer laut Dietmar Wittich das MEGA-Treffen stattfinden sollte. Fragte in jeder Kneipe, an jeder Würstchenbude, die Bierfahrer, Taxisten, Passanten, in der Sternwarte und im Kino Odyssee. Und bei einer Odyssee ohne Troja und ohne Ithaka blieb es, nachdem ich mich von einer Richtung in die entgegengesetzte umherschicken hatte lassen. Kein Glück bei diesen Begegnungen, Ostberlin ist immer noch Ausland, und diese ehemaligen Kommunisten verblüffen mich durch die Kombination aus Verschwörertum und Nicht-zu-Ende-Organisieren.

      12. April 1991

      Von Novosti ein paar Erklärungen, die Gorbatschow auf der »1. Parteikonferenz der Streitkräfte der Sowjetunion« (offenbar wurde hier eine neue politische Bühne eröffnet) abgegeben hat: Kühl und knapp für Rechtsstaatlichkeit, gegen »Rückfall in Unterdrückung und Gewalt«, aber für eine Ordnungsfunktion der Armee. Lässt die Gefahr des Bürgerkriegs nach einem Putsch durchscheinen: »Man darf nicht zulassen, dass sich unter der Parole der Verteidigung des Sozialismus oder unter irgend einer anderen Parole die Jahre 1937–38, 1952–53 usw. wiederholen.« Sieht eine faschistische Gefahr, »Leute einer gewissen ›braunen‹ oder ›halbbraunen‹ Schattierung, die an die Macht drängen«. Er bekennt sich als Kommunist und artikuliert die sozialistische Perspektive »mit den Zielen, die dem Volk seit Jahrhunderten vorschweben. Das sind soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit, stabile und normale Beziehungen zwischen den Menschen und menschliche Solidarität«. Es könnte sein, dass er die Rechnung ohne das wirkliche Volk macht. Aber unzweifelhaft ist in seiner Position eine stabile Kontinuität zu erkennen. Dagegen hat Jelzin etwas Komödiantisch-Wechselhaftes.

      13. April 1991

      Die gestrige Gesellschafterversammlung des »Argument« wurde geleitet von Horst Meyer, dem neuen Trabi-Geschäftsführer, Chef von »Sachsenring« in Zwickau.

      *

      G als neuer Jaruzelsky? Nein, ungleich tragischer.

      In der FAZ propagiert E. G. Vetter im Anschluss an eine Tagung der Raymond-Stiftung (liberal-konservativer Block) »so etwas wie die Aufforderung zu einer antisozialistischen Vision« auf Grundlage einer »sozial bestimmen Marktwirtschaft«, um »alle Anbiederungs- und Verführungsversuche eines alten und neuen Sozialismus im Keime zu ersticken«. Karl-Dietrich Bracher brandmarkte laut Vetter auf besagter Tagung es als »besonders üblen Trick, wenn Vertreter der gescheiterten totalitären Systeme in den Mantel des ›demokratischen Sozialismus‹ schlüpfen, den sie bis dahin mit brutalen Methoden bekämpft haben.« – Da ist was dran. Aber das Ganze dient einer Mobilmachung auch gegen den authentischen