21. März 1991
In der SU endlich wieder Politik erkennbar. Mit der Dreiviertelmehrheit für die Beibehaltung der Union im Rücken verkündete Gorbatschow den ersten Akt der Preisreform. Er hat dafür die Zustimmung aller Republiken (außer den baltischen) gewonnen, auch wenn Jelzin nur seinen Stellvertreter unterschreiben ließ, um aus einem eventuellen Misserfolg Kapital schlagen zu können. Es läuft so, wie Gorbatschow es immer angestrebt hat: die staatlichen Subventionen werden zurückgenommen, was den »Gesamtpreis« um die gleiche Summe hochtreibt, und die freiwerdenden Mittel werden (zu 85 Prozent) auf die Löhne draufgeschlagen. Theoretisch gesehen, müssten jetzt die Marktmechanismen volkswirtschaftlich sinnvoll wirken. Was den Widerstand gegen die Preiserhöhungen angeht, der noch vor einem Jahr das Programm von Ryschkow im Vorfeld zum Scheitern gebracht hat, so scheint er zermürbt zu sein durch die Krise. Preiserhöhungen verlieren ihren Schrecken angesichts des größeren Schreckens, dass es zu regulären Preisen fast nichts mehr zu kaufen gibt und am Schwarzmarkt eh horrende Preise verlangt werden. Auch könnte es sein, dass sich Widerstand verzettelt und erschöpft hat. Der Streik der Bergarbeiter muss also nicht zum Generalstreik werden, sondern könnte die Form werden, in der die Gesellschaft diffus seine ›Sinnlosigkeit‹ realisiert.
Im DDR-Gebiet wird laut Sachverständigenrat »der Aufschwung« vorerst ausbleiben, der Zusammenbruch noch weitergehen. Vom Bausektor strahlen keine Konjunktureffekte aus. Auch wird jetzt vom verschlechterten Umfeld (Weltrezession) gesprochen.
22. März 1991, Gramsci-Colloquium im Haus am Köllnischen Park
Schwäche und Stärke meiner Kommunikationsweise sind zwei Seiten einer Medaille: esoterisch mit einer Fassade, die überaus zugänglich ist. Hält einen Schock bereit.
Bemerke die Tendenz, die Struktur der gramscischen Reflexionen dem Gefängnisdasein zuzuschreiben. Die so reden, haben vermutlich nie geforscht, sonst wüssten sie, dass das, was sie als haftbedingt schildern, zum normalen Prozess wirklicher Forschung, die eine fortgesetzte Anomie ist, gehört. Das ständige Umarbeiten, Umwerfen der Anordnung, die Unordnung, das Sich-Sperren des Materials, das Darüber-Krankwerden, die Schlaflosigkeit, das unabstellbare Zwangsdenken usw.
Joe Buttigieg hat recht, wenn er annimmt, dass die meisten, die Gramsci im Munde führen, einfach zu faul sind, um sich sein Denken wirklich anzueignen. Der Mangel an kritischer Strenge, sagt er, hat die intellektuellen Milieus der Linken erreicht. Lorianismus bedeutet billiges Denken, das die Schleusen öffnet. Gramsci spürte darin eine der Vorbedingungen des Faschismus.
Gramscis Methode ist arbeitsaufwendig.
Frank Deppe befürchtet jetzt vor allem, dass Begriffe wie »Zivilgesellschaft« als eine black box fungieren, in die alles aus den theoretischen Traditionen der Arbeiterbewegung Mitzunehmende hineinprojiziert wird. Man müsse viele Linien nebeneinander berücksichtigen. Er hat recht und unrecht, denn er gewichtet noch zu wenig die Beispiellosigkeit der Arbeitsweise der Gefängnishefte und neigt dazu, deren Besonderheit in Gramsci als solchem aufzulösen.
Nach einer ärztlichen Visite bei Gramsci verlangte der Arzt, man möge ihn einen Blick auf die Hefte werfen lassen. Die Folge von anscheinend unverbundenen Paragraphen mit wechselnden Themen durchblätternd kam er zur Diagnose, dieser Gefangene müsse ein Psychotiker sein.
Gramscis Verteidigung vor Gericht basierte darauf, seine Parteiführerschaft zu bestreiten. Da schrieb Grieco einen hymnischen Brief, worin er Gramsci zum größten Parteiführer hochlobte. Das machte Gramsci zum Märtyrer, was dieser nie sein wollte. Eine Falle.
Kuno Füssel sprach vom Hilflosen Atheismus der alten DDR, die den Atheismus zur Staatsreligion erhob und zum Erziehungsziel machte und die Zivilgesellschaft ins Privatleben einsperrte. Im Anschluss daran parallelisierte Jan Rehmann Gramscis Ökonomismuskritik und Marx’ Religionskritik. Der Vergleich knirscht.
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Zivilgesellschaft. – Eine marxistische Sozialistin widmete 1901 ihre römische Antrittsvorlesung der Zivilgesellschaft: Teresa Labriola, Tochter Antonios, sprach sich dagegen aus, die Bildung der Zivilgesellschaft in die Zukunft zu verlegen. Geregelte Solidargemeinschaft.
Zweidrittelgesellschaft. – Gewohnt, fürs untere Drittel zu sprechen, vergisst die Linke leicht, dass es darauf ankommt, einen Block zusammenzubringen, der die besser situierten Zweidrittel spaltet und einen erheblichen Teil davon mit dem unteren Drittel zusammenschließt.
Peter Glotz: von der Nomenklatura zur Prokura.
23. März 1991
Anne Showstack-Sassoon reagierte abwehrend, als ich ihr beim Gramsci-Colloquium vom neuen Elend in der vormaligen DDR erzählte. Sie verteidigte ihre Freudentränen, die sie sich vorm Bildschirm hatte machen lassen.
Der Dietz-Verlag hat der Redaktion von »Utopie kreativ« zu Ende Juni gekündigt. Die Treuhand hat alle Stiftungen der PDS eingefroren.
Lexikalische Neuzugänge. – Abwicklung, Evaluierung, Nullarbeitszeit, Treuhand, Warteschleife.
Mit Kathrin A. vereinbart, dass sie ein paar Tage an der Fertigstellung des Sartre-Buchs (Neuauflage) mitarbeitet. Etwas wie Angst in ihrer Stimme.
24. März 1991
Wie ein Vogel im Käfig flattern die Wünsche, die meine Seele sind, in meinem eingespannten Leben. Bevor er tot zu Boden fällt, wird er die Tür offen sehen. Kaum mehr Leben vor mir, gemessen an den stürmischen Verlangen. Von der Tagung bleibt mir jenes spitzbübische Mädchen Franziska im Kopf, wie ein Lichtbild in einer Welt des Mangels. Fata Morgana, wechselnd zwischen Kind und Geliebter.
25. März 1991
In Leipzig die größte Montagsdemo seit jenem Herbst 89. Auf dem berliner Alex dito. »Wohlstandslüge, Wahllüge, Hauptstadtlüge«, die Losungen in die drei Farbfelder der bundesdeutschen Fahne geschrieben. Wechseln Symbole die Front? Die Zusammenrottung der Übelstände, deren leicht fassliche Artikulation wird für die Regierung gefährlich. Wie Schaum auf der Woge die rasche Forderung des künftigen SPDVorsitzenden nach Neuwahlen. In Leipzig forderte der IG Metall-Chef Steinkühler den Vorrang der Sanierung vor der Privatisierung. Die Krise in Ostdeutschland noch vor ihrem Tiefpunkt. Zugleich gehen die Auftragsbestände der westdeutschen Industrie zurück, weil die Auslandsbestellungen. Der Dollar auf Rekordstand, man schreibt dies der ostdeutschen Krise zu. Die Börse geht nach unten.
Der Anschluss der DDR hat der alten Bundesrepublik (im letzten Quartal 90) fast 5 Prozent Wachstum gebracht bei einem Beschäftigungsstand, der um 886 000 über dem Vorjahresniveau lag (dass die Arbeitslosen nur um 220 000 abgenommen haben, spiegelt die Zuwanderung). All das bei Rückgang der Auslandsnachfrage. Stärkstes Wachstum bei den »Ausrüstungsinvestitionen« (11,9 Prozent).
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Im ND-Gespräch, das Brigitte Hering mit Harald Neubert und mir heute geführt hat, nutzte Neubert mich zur Selbstrehabilitierung. Dieser Vorruheständler, dessen Persönlichkeit immer unverwechselbare Funktionärsfarbe tragen wird, jenes spezifische DDR-Grau, hat sich mit seiner Treue zur Sache dennoch Umtriebigkeit bewahrt. Ihn rettet, dass er mit Kontakten zur italienischen KP befasst war, daher u.a. auch Gramsci kannte, was alles relativ zur ML-Orthodoxie als ungeheuer ketzerisch galt.
Horizontale Kontakte scheinen im SED-Apparat ein Schattendasein geführt zu haben. Neubert schildert die Wandlitz-Nomenklatura als nicht mit einander kommunizierend: es hätte als Fraktionsbildung verstanden werden können. Noch heute sollen sie isoliert und beleidigt in ihren Wohnungen sitzen und nicht einmal Telefonnummern voneinander haben. Otto Reinhold habe die Akademie