Die unheimliche Arbeit am Bild. Die Wahrheit über das Nehmen desselben. Das zeitaufwendig Hochkomponierte dem flüchtig-momentanen Verbrauch dargeboten, der nicht anders kann, als sich unmittelbar absorbieren zu lassen.
Man schießt Fotos. Aufnahme konnotiert anders: a take. Im Gebrauch liegen die Grenzen anders.
*
Vor allem seinetwegen habe ich Fred Jamesons und Susan Buck-Morss’ Einladung angenommen: Merab Mamardaschwili aus Tbilisi. Nelly Motroschilowa hatte von ihm respektvoll geraunt. Vielleicht zehn Jahre älter als ich, kahl, an Foucault erinnernd und im Gestus etwas Französisch-Mediterranes. 1946, »im dunkelsten Tunnel«, entschloss er sich (kam ihm »der Funke in den Sinn«), ein linguistisches Fenster aufzumachen: lernte Englisch, und zwar mittels eines Radios Marke Mende (Nordmende?). Die Bücher, die nicht da sein sollten und sich doch einfanden: Dickens, Hemingway, wurden zu Stützpunkten einer anderen Weltmöglichkeit. Später lernte er Französisch, Italienisch, Spanisch; er liest Deutsch.
Die Brücke zwischen Ost- und Westintellektuellen muss gebaut werden, sage ich. Ja, erwidert er, und sie kann nur persönlich gebaut werden, im Gespräch. – Deshalb bin ich hergekommen, sage ich. Aber das Gespräch ist rätselhaft schwierig.
Unser (westlicher) Marxismus hat vielleicht die gleiche Funktion wie ihr (östlicher) Mystizismus: Distanznahme im Verhältnis zur legitimierenden Macht des Faktischen der Herrschaft.
Das Gefühl, dass auch ich meine Art von Rückzug antreten muss, aber in der widerständigen Materie einer sozialen Denkwelt, deren Besseres niemals preisgegeben werden darf.
Valerij Podorogas Interesse für die Ästhetik des Schreckens – Bohrer wäre sein Gesprächspartner. Ich verstehe nur vage und per analogiam, warum dieses Thema, und warum so? Ich müsste seinen archimedischen Interessenspunkt suchen, um ihn durch Kritik zu verstehen. Variante des Gefühls der Ohnmacht im Verhältnis von Diskursformationen: nicht kritisieren zu können. Hermeneutischer Stierkampf. Vorm Untergehen suche ich mich zu retten, indem ich mitten im unverstandenen Vortrag Notizbuch führe – wie früher im Café. Die anderen mögen denken, ich schriebe mit. So trage ich bei zum Seminarbluff.
Merab bricht in den hermetischen Diskurs durch Vergleiche ein, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Behandlung des Auges bei Eisenstein im Unterschied zu Buñuels Chien andalou.
Valerij fasziniert von Hitlers Megalomanie, der phantasmatischen Architektur, den Plätzen, die von der Masse auszufüllen, die nur in Simulation leben könne. Bei Eisenstein das Schafott in die Inszenierung geschlüpft.
Fred Jameson versucht, seinen westmarxistischen Diskurs anzuknüpfen, spricht von der unaufhebbaren Spannung zwischen Freud und Marx, von der Frage, ob Gewalt aus der Kindheit oder aus der gesellschaftlichen Umgebung komme, aber das bleibt äußerlich. Podoroga repliziert mit der Produktivität der Gewalt. Jeder von uns, jede Epoche, habe einen eigenen Gewaltstil.
Jameson kann als fast plumper Vertreter gesunden Menschenverstandes ungemein imponieren. Man ahnt das US-Milieu, die Konkurrenzen und Gremien, worin er trotz seines Marxismus seinen Weg gemacht hat.
Die Gruppe »Objektive Philosophie« zieht die Worte Mumie und Simulakrum zu »Mumakrum der Macht« zusammen, und meint damit das Lenin-Mausoleum. Großes Gelächter bei einigen Moskauern. Das inspiriert Merab, einen Witz von 1954 zu erzählen, als Stalin noch neben Lenin im Mausoleum lag. Fragt einer, wer ist das? Antwort: Stalin. Und, auf den einbalsamierten Lenin deutend, wer ist das? Antwort: Stalins Lenin-Orden.
13. Oktober 1990
Boris Groys gehörte zum Freundeskreis von Komar & Melamid (Sots Art). Er sei aus der SU als Marxist weggegangen. Behauptet eine Homologie zwischen Stalin und dem Künstler als diktatorischem Absolutisten totaler Weltrekonstruktion.
Die SU als Konsumentenstaat. Dominanz der Frage, was können wir vom Westen nehmen, nie, was können wir geben.
14. Oktober 1990, Sonntag
In der International Herald Tribune von vorgestern ein Abgesang von William Pfaff auf Reaganomics und Thatcherismus (»The Economics of Innocence Gets its Comeuppance«, ursprünglich für die Los Angeles Times geschrieben). Nicht der Appell an den Eigennutz sei ihre stärkste Zugkraft gewesen, sondern ihre »Unschuld«, ihr »Rousseauismus«: die gute Natur korrumpiert durch menschliche Einmischung … Pfaff reflektiert nicht darüber, dass hier unter »Natur« das Gewimmel menschlichen Wirtschaftshandelns gedacht wird, während »der Mensch« für den intervenierenden Staat steht. Diese Eigentümlichkeit zu analysieren, würde den Diskurs zu weit führen. Er will ja nicht auch nur den Schatten eines Zweifels auf die kapitalistische Wirtschaftsform werfen, sondern innerhalb derselben eine etwas andere Wirtschaftspolitik. Das Ende der Reaganomics sei vergangenen Freitag gekommen, als George Bush »shut down the American government for lack of money to pay to go on«, womit Thatchers Kapitulation vor der deutschen Währungspolitik zusammengefallen sei. In England die Zinsen heute so hoch und der Wirtschaftszustand so schlecht wie damals, als Thatcher zur Macht kam; die Inflation doppelt so hoch wie bei den westeuropäischen Konkurrenten. In den USA war die Illusion geschürt worden, man könne alles haben, ohne zu bezahlen: »Weltführungsrolle, hohe Militärausgaben, Raumforschung, old-age-entitlements, billiges Benzin, Sparkassenbetrug (Savings-and-Loan-Krise), Armeen an den Golf«. Umsonst, weil man glaubte, Steuersenkung würde die Konjunktur anheizen und das Steueraufkommen vergrößern. Der Thatcherismus nicht so naiv. »Er war eine harte Doktrin gnadenloser Privatisierungen, dem Markt überlassend, was immer ihm überlassen werden konnte: Flüge & Züge, Wasser & Strom, Gesundheit, Kunst, Unterhaltung, Bildung, Forschung, die Zukunft der Nation selbst«. Gewaltsame Operationalisierung von Adam Smith: »Es machte ein Prinzip der theoretischen Ökonomie zu einer operationalen Doktrin.« Annahmen: Effizienz als solche = gesellschaftlich nützlich, ja sogar ethisch gut. Jetzt flottieren die Zinsen für Hypotheken auf Grundbesitz, d.h. die Eigenheimbesitzer müssen bluten. Das geht an den englischen Nerv.
Die Kritik von links hatte immer gelautet: Institutionalisierung und Ausbeutung des Eigennutzes mit dem Effekt, die Reichen reicher und die Armen ärmer zu machen. Pfaff haut sie mit ihren Waffen: sie sind im Grunde vom selben Schlag, aus dem die »Saint-Justs, Lenins und Pol Pots« entspringen. Prima! Nun haben die Kritiker ihr Fett weg, und niemand soll merken, dass Pfaff sich in den Aporien des Kapitalismus herumtreibt.
*
Dragan über die jugoslawischen Verhältnisse: 1000 DM vor einem Jahr noch ein Vermögen, jetzt kaum mehr viel. Die Löhne verdoppelt, aber die Preise verdreifacht. Sieht keine Chance. Eine unproduktive Gesellschaft.
15. Oktober 1990
Merab: Individualität, Diskontinuität, Irreversibilität – postklassische Gesichtspunkte. Nietzsche und Heidegger als Zeitgenossen, Marx der erste, dem der Zweifel dämmerte.
*
Kaum ist die Nachkriegszeit beendet, ist eine neue Vorkriegszeit angebrochen. Die FAZ spielt mit dem Konzept.
Auf dem Korso der Altstadt von Dubrovnik beobachte ich folgende Gebrauchsweise von Jeans: über einem schwarzen Trikot Jeans, denen die Hosenbeine abgerissen sind, und zwar irre weit oben, heiße Höschen: die Trägerin vielleicht 15, mit ihren Freunden flanierend.
*
Valerij Podoroga: Nachdem Ligatschow weg ist, gibt es nur mehr ein letztes Hindernis für die Perestrojka, und das ist Gorbatschow selbst. Ich fragte Merab Mamardaschwili nach seiner Meinung dazu. Er erwiderte, er habe keine, weil Gorbatschow für ihn kein Gegenstand seines Nachdenkens sei – seit 20 Jahren habe er sich geweigert, Politiker auch nur wahrzunehmen. Keiner der Mächtigen soll ihm in der Sonne stehen.
Valerij will mir die Bedeutung von Nikolai Trawkin (Chef der Demokratischen