In der gestrigen FAZ das Entsprechende von Unternehmerseite: die Aktivität müsse vom Westen ausgehen.
16. August 1990
GB, ursprünglich Maurer, dann »Philosoph«, arbeitet jetzt als Nachtportier. Versucht, geistig am Leben zu bleiben. Will zurück in die Wissenschaft. Aber das könnte nur »mönchisch« gelingen, neben der Lohnarbeit.
Die Leitglosse der heutigen FAZ (Heike Schmoll, »Kirche nach dem Sozialismus«): »Dass Gott die Mauer zu Fall gebracht habe, ist nur ein Beispiel für Aussagen, die sich anmaßen, Gottes unbestrittenes [!] Handeln in der Geschichte direkt zu deuten und im einzelnen zu benennen.«
20. August 1990
Frigga hat eine Einladung zur Teilnahme an jenem nach dem Schneeballprinzip verfahrenden System erhalten, wo man an den Erstplazierten 30 DM überweist, so und so viele neue Leute zur Mitwirkung anwirbt und dafür auf der Liste der Berechtigten einen Platz erwirbt (den vierten), der mit jedem Durchgang eins aufrückt. Auf die Weise soll man rechnerisch nach kurzer Zeit zigtausend Mark erhalten können. In Wirklichkeit bricht die Kette irgendwann zusammen, einige haben sich bereichert, die große Menge geht leer aus, bzw. zahlt die Spesen. Da man nicht wissen kann, wann die Kette reißt, ist es ein Glücksspiel. Wir hatten von solchen geldreligiösen Praktiken gehört, pflegen alle derartigen Aufforderungen in den Papierkorb zu werfen. Aber hier zögerten wir, denn unter den vier Namen waren drei, die wir kannten, zunächst Albert E., bis vor kurzem Redakteur der »Marxistischen Blätter«, jetzt Herausgeber von »Z« (»Zeitschrift für marxistische Erneuerung«). An letzter Stelle stand Therese Dietrich, eben die, welche noch vor wenigen Wochen in unserm Ost-West-Workshop Labica referiert und danach ihr Ausscheiden aus dem marxistischen Projekt erklärt hatte. Beklemmung. Wir fühlen uns wie damals, als wir davon erfuhren, dass einer unserer langjährigen Mitforscher aus dem »Projekt Ideologietheorie«, Herbert B., der Scientology-Sekte beigetreten war.
22. August 1990
Arnold Schölzel nun PDS-Vorsitzender an der Humboldt-Uni. Micha Brie sein Stellvertreter. André Türpe kandidiert für die PDS zum Magistrat. Unsere Forschungsgruppe ist also über diese Personen stark mit von der Partie. Benno Hirschmann sagt fünf Jahre Strudel voraus, in den wir hineingezogen werden. Er spricht mit dem Triumph des gewohnheitsmäßigen Überbringers schlechter Nachrichten.
25. August 1990
In eine Liste der feigen Umbenennungen aufzunehmen: Werner Tübkes »Bauernkriegspanorama« heißt künftig »Panorama Bad Frankenhausen«.
Kapitalistische Internationale. – »Die politische Führung der Nato arbeitet im Bewusstsein, dass die heutige Welt Einzelgänge von Staaten allein wegen der wirksamsten ›Internationale‹, dem weltweiten Kommunikationsnetz von Industrie, Banken und Technik, nicht zulässt – zumindest nicht im industrialisierten Gebiet der Nordhalbkugel unserer Erde.« (Jan Reifenberg, »Von der Abschreckung zum Konsens«, in: FAZ)
Die nächste Kriegsfront. – »Der Kalte Krieg war der Dritte Weltkrieg, viel kostspieliger als der zweite«, sagte Falin. Die nächste Kriegsfront wird bereits rekognosziert. Sie erscheint als »Folge des jahrzehntelangen Luxus einer ausschließlichen Beschäftigung mit dem Ost-West-Gegensatz […]. Nukleare oder durch Androhung des Einsatzes chemischer Waffen ausgeübte Erpressung im ›Gürtel der Instabilität‹ der islamischen Staaten von Pakistan bis Marokko kann weit gefährlicher werden als zu Zeiten des Kalten Krieges.« (Reifenberg, ebd.)
26. August 1990
In meinem Radiogespräch mit Peter Huemer vom Mai zu kurz gedacht: Bipolarität der Weltordnung setzte die Dritte Welt frei. Dass jetzt der Irak der neue Feind, ist trotz aller fundamenta in re ein Vorwand: Der Feind von morgen ist die Dritte Welt. Aber so, wie das Verhungern der Vielen ein Feind der Satten ist.
Huemer gestern: Österreich wird in den deutschen Sog geraten; in 2–3 Jahren wird es eine »Identitäts«-Diskussion geben. In der BRD sieht er »die reichste Gesellschaft der gesamten Menschheitsgeschichte«. – Teresa Orozco schildert die Verwandlung der Innenstädte Ost- und Westberlins als innere Drittweltisierung.
28. August 1990
Von einer Reise in den Norden der DDR rückkehrend, erzählte Frigga von einer freundlichen, kinderreichen und –lieben Gesellschaft und einer demokratisch-egalitären Urlaubskultur an der Ostsee. Sie meint: unbrauchbar für Mercedesfahrer, weil man dort bisher keine Ausschließung kenne. Aber ohne kulinarische Kultur. Die Preise noch immer ein Witz im Vergleich zu den hiesigen.
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Der Sinn meiner Arbeiten zur NS-Rezeption: einen Anstoß geben, ja geradezu erzwingen, dass weitergegangen werde, dass die Fragen noch einmal aufgemacht werden, darauf bauend, dass die Abstoßung der nazistischen Erfahrung ausreiche, den neu in Gang gebrachten Prozess in die entgegengesetzte Richtung laufen zu lassen. Was aber, wenn einzig Destabilisierung einer freilich schon immer scheinhaften Ordnung herauskommt, die zwar hohl, aber immerhin dem Nazismus entgegengesetzt war. Was, wenn die neue Schamlosigkeit, von der Peter Huemer gesprochen hat, die Gelegenheit nutzt?
Zurückblickend auf Kohls Visionen von deutscher Wiedervereinigung von 1986: Was damals Wunschtraum, ist heute erfüllt, ja übererfüllt, unerwartet für uns, die wir es für fern aller Realpolitik hielten. Haltepunkte (Verankerungen) der alten Weltordnung waren die Juden und der Osten, die deutsche Schuld und die aus ihr folgende Teilung. Nun aber waren die Juden beschäftigt mit den Arabern und brauchten die Unterstützung des Westens, also auch der Bundesrepublik, und der sowjetische Hegemonieraum im Osten löste sich auf. Plötzlich hatten die deutschen Unternehmer (die Konzernmanager) die Hände frei. Der riesige Akkumulationsraum (und zunächst Kapitalzerstörungsraum) des Ostens ergab sich ihnen. Reagans Hambacher Rede.
30. August 1990
Christian Meier arbeitet (in der FAZ) an folgendem Problem: Nachdem die DDR-Bürger »sich befreien wollten«, »haben sie gar nicht so selten den Eindruck, sie hätten nur die Herrschaft gewechselt«. Er kommt zurück auf sein Thema vom vergangenen Herbst: was er damals DDR-Identität nannte, nennt er jetzt »DDR-Mentalität«.
Vorgestern Abend hörte ich von Uwe Damm einiges über Ambivalenzen im Arbeiterbewusstsein der DDR. Man muss selbst Äußerungen der Resignation und Absage an die eigenen Kräfte sehr sorgfältig lesen. Uwe hat eine subversive Hermeneutik entwickelt. Denkt mit den Händen. Formuliert nah an den Arbeitenden.
September 1990
Jiří Kosta erklärte in einem Gespräch in der Augustnummer der Neuen Gesellschaft den Dritten Weg und die sozialistische Marktwirtschaft für Irrtümer. Den Begriff »Demokratischer Sozialismus« könne man behalten, wenn geklärt sei, dass es sich dabei um eine Orientierung an den Grundwerten Freiheit, Gleichheit, Solidarität handeln muss, die ein innerkapitalistisches Korrektiv anstrebt. Als mitteleuropäische Erfahrung (vor allem der Ungarn) gibt er zu verstehen, dass eine Mischwirtschaft nicht funktioniere und dass er sich die »soziale und ökologische Marktwirtschaft« nur als kapitalistische vorstellen kann.
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Die BRD war unfähig, der RAF jenen Rückzug aus dem Terror offen zu lassen, den die Existenz der DDR möglich machte. Inge Vietts offener Brief an ihr magdeburger Arbeitskollektiv schildert die DDR als einen Staat, dessen Leitwerte sie akzeptierte. Joscha Schmierer, der ihren Brief in der Augustnummer der »Kommune« zitiert, liest aus den Verwicklungen eine typisch deutsche tragische Farce heraus. Die BRD hält krampfhaft den Mythos einer ungebrochenen Kontinuität der RAF aufrecht. – Im Übrigen scheint Schmierer der Versuchung nachzugeben, den Kapitalismus