Während ich drohend meine Hand über die Funktaste halte und auf einen Moment warte, in dem der Funkverkehr etwas nachlässt, beruhigen sich alle Beteiligten etwas. Schließlich sagen alle einmütig: »Doch keine Polizei.«
Das Mädchen spricht mit dem jungen Mann auf der Rückbank. Plötzlich wird es ganz still und der junge Mann bringt leise mit leicht gesenktem Haupt einige Worte mühsam hervor. Nach einer lautstarken Erwiderung des Mädchens wiederholt er noch einmal lauter und deutlicher seine zuvor artikulierten Laute. Ich bin mir sicher, dass sich ihr Partner entschuldigen oder irgendein Versprechen abgeben muss, ohne dass ich auch nur den Sinn eines einzigen Wortes erahnen kann. Dann steigen beide wieder aus. Der Mann hat sein Ziel erreicht.
Auf der Flucht
Aus dem Halbdunkel stürzt ein Mann mit schräg nach oben gestrecktem Arm hervor und läuft fast vor meinen Wagen. Ich mache eine Vollbremsung und komme gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Der Mann schlurft um die Kühlerhaube herum und steigt ein.
»Zum Glück habe ich Sie gesehen«, sage ich, »das war ganz schön knapp«. Der Mann zeigt keine Reaktion, aber mir steckt der Schreck noch in den Gliedern.
»Da haben Sie Glück gehabt, dass ich zufällig vorbeigekommen bin. Um diese nachtschlafene Zeit können Sie hier in Buchholz lange auf ein freies Taxi warten, oder haben Sie eines bestellt?«
»Nein, ich habe keines bekommen«, sagt der Mann monoton.
Ich bin irritiert: Was soll das bedeuten? Entweder er hat bestellt oder nicht. Jetzt bemerke ich erst, dass er nur im Pullover unterwegs ist und das bei fünf Grad Außentemperatur. Wir fahren zunächst schweigend Richtung Zentrum.
»Können Sie nicht das Radio anmachen?«, unterbricht mein Beifahrer die Stille. Nun bewegen wir uns mit Musik und weiterhin ohne Gespräch fort.
»Ich bin psychisch krank«, sagt mein Fahrgast plötzlich, »ich bin gerade aus der Medizinischen Hochschule ausgebrochen. Ich habe dort jemanden niedergeschlagen, der wollte mich nicht gehen lassen.« Nach kurzer Pause fügt er noch an: »Manche Leute haben ja was gegen psychisch Kranke!?« Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er mich dabei prüfend anguckt.
»Ich finde nicht, dass sie ausgegrenzt werden sollten«, sage ich sicherheitshalber.
»Ich habe fünf Polizisten auf einmal verprügelt.«
»Wirklich?«, lache ich.
»Glauben Sie mir etwa nicht?«, fragt er mit einem drohenden Unterton.
»Doch, doch«, versuche ich ihn zu beschwichtigen, »ich finde es nur gut. Das würde ich auch manchmal gern machen.«
»Wenn mir niemand etwas will, bin ich ruhig, aber sonst werde ich böse. Ich war früher einmal Boxer.«
Damit gibt er mir unmissverständlich zu verstehen, dass mir ja nicht einfallen sollte, die Polizei zu benachrichtigen. Er spricht mit etwas starrem Blick und steifer Körperhaltung immer nach vorn gewendet. Zwischendurch regt er sich bei seinen Erzählungen etwas stärker auf, woraufhin ich versuche, ihn wieder zu beruhigen.
»Ich kann nur sagen: Das wünsche ich niemandem. Psychisch krank zu sein ist das Schlimmste. Bei mir weiß ich, wodurch die Psychose ausgelöst worden ist. Ich hatte einmal einen schweren Autounfall …«
Ich denke sofort: »Aha, wohl eine körperliche Ursache, bestimmt eine Gehirnverletzung.« Aber ich habe mich getäuscht.
»Bei dem Unfall sind eine Frau und ihr kleines Kind gestorben. Ich habe das jetzt einigermaßen verarbeitet, aber manchmal muss ich noch daran denken.« Sein Gesicht verzerrt sich und er beginnt leise zu schluchzen. »Seit drei Monaten war ich jetzt in der MHH, ich musste einfach raus.«
»Geld haben Sie aber dabei?«, frage ich.
»Natürlich, ich bin nicht doof! Manche Leute denken: ›Ach, ein Psychopath‹ und man hat keine Chance mehr. Dabei habe ich Abitur und alles gemacht.«
Gegen Ende der Fahrt fragt er mich: »Bist du psychisch krank? Du bist so hemmungslos.« Er meint ›gehemmt‹ und hat offensichtlich meine Anspannung und Angst bemerkt, aber sicherlich nicht sich selbst als Ursache vermutet.
Am Steintor bezahlt er mit einem Fünfziger, den er womöglich geklaut hat, vergewissert sich noch mal, dass ich keinesfalls die Polizei rufe und verschwindet im Rotlichtviertel. Ich teile es trotzdem sofort dem Funker mit. »Na dann werde ich mal bei der MHH anrufen und fragen, ob dort jemand fehlt«, ist sein lapidarer Kommentar.
Lost in Hildesheim
An einem ruhigen Samstagnachmittag bekomme ich einen Auftrag von der Polizei in der Herschelstraße. Eine Polizistin empfängt mich. »Hier ist ein Herr, der muss nach Hildesheim.«
Meine Herzfrequenz erhöht sich aus Freude über die weite Fahrt. Meistens trudeln die guten Touren ein, wenn man gar nicht auf sie angewiesen ist. Diesmal ist aber sogar der Zeitpunkt ideal, denn es gibt momentan kaum Aufträge.
»Er hat sich jetzt beruhigt, Sie brauchen keine Angst zu haben«, fährt die Polizistin fort. »Er ist aus einer Betreuungsanstalt für geistig Behinderte abgehauen und mit dem Zug nach Hannover gekommen – ohne Geld und Fahrkarte. So ist er schließlich hier gelandet.«
Ohne auf irgendeinen Zettel zu gucken, teilt sie mir mit: »Er muss ins Krugfeld … 12.« Ich frage noch mal nach: »Krugfeld, ja?«. Nach der wie selbstverständlich vorgetragenen Mitteilung der Beamtin denke ich, dass es sich um eine bekannte Adresse in Hildesheim handeln müsse. »Wir haben im Heim angerufen, die Fahrt wird dort bezahlt.« Währenddessen luge ich gespannt durch die Glastür, hinter der ich einen Polizisten auf einen mittelgroßen Mann von kräftiger Statur einreden sehe. Der Mann lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand, die Hände hat er hinter seinem Gesäß verschränkt. Er wirkt nervös. Ein paar Minuten später geleitet ihn der Polizist in den Vorraum, in dem ich stehe. Dort wird er mir als mein neuer Fahrgast vorgestellt. Man sieht ihm die geistige Behinderung nicht an – bis auf leichte Anomalien in den Körperbewegungen.
Wir gehen zu meinem Wagen und ich lasse ihn auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Bevor wir losfahren krame ich meinen Großraumplan hervor, um meine Zieladresse zu suchen. Unter »Krug« ist in Hildesheim aber nur eine Krugstraße verzeichnet und kein Krugfeld. Da es aber überhaupt nichts anderes mit »Krug« gibt, schlussfolgere ich, dass das die richtige Straße sein muss. Etwas zu denken gibt mir allerdings, dass die Straße auf dem Plan sehr kurz ist und in einem etwas abgelegenen Dorf – Sorsum – liegt, das gerade noch so zu Hildesheim zählt. Zur Sicherheit frage ich meinen Fahrgast, ob Hildesheim-Sorsum richtig ist. Er überlegt eine Weile, sagt dann aber: »Ja.«
»Sorsum ist richtig?«, vergewissere ich mich ein zweites Mal.
»Ja. Sorsum.«
Mir ist klar, dass ich auf seine Bestätigung womöglich nicht viel geben kann. Aber ich will ihm glauben, um nicht noch einmal mit ihm zurück zur Polizei gehen zu müssen. Ich kann ihn nicht allein im Wagen sitzen lassen – vielleicht ist er bei meiner Rückkehr verschwunden. Ich beruhige mich damit, dass er eigentlich ganz normal wirkt. Während der Fahrt versuche ich immer wieder, eine Konversation in Gang zu bringen. Dies scheitert jedoch an meinem Beifahrer, der nichts erzählen kann. Er antwortet meist nur mit ja oder nein. Über die Schnellstraße und Autobahn erreichen wir Hildesheim nach nur fünfundzwanzig Minuten.
Am Ortseingang frage ich noch mal: »Wir fahren jetzt also nach Sorsum?«.
Mit »Ja, Sorsum«, bleibt er bei seiner Aussage, der ich nun kaum noch glauben kann. Zu deutlich sind die geistigen Defizite, die ich bei meinem Anvertrauten ausgemacht habe.
Ich schlage mich mühsam durch die Stadt und nutze jede rote Ampel, um den Stadtplan zu studieren. Nach einem längeren Umweg erreichen wir endlich Sorsum. Meine Hoffnung, dass doch alles seine Richtigkeit haben wird, entpuppt sich nun endgültig als reines Wunschdenken. In Sorsum in der Krugstraße