Was mich am Risotto am meisten fasziniert, ist die Metamorphose der Reiskörner, die nun dazukommen. Was die schlucken, bis sie weich sind! Gemüsebrühe, Pilzwasser – im Nu verschwindet das in dieser Lava. Wenn ich eine große Kelle nehme, reicht die Zeit für eine Zigarette draußen, wo es wie immer nieselt. Danach ist der Risotto so durstig, dass er »Schlurch« macht, als ich ihn wieder tränke. Und rühre. Das Rühren ist auch emotional wichtig. Ein Gericht, in dem 20 Minuten lang gerührt wird, gibt sanfte Energie weiter. Außerdem: Risotto wächst, während ein Steak schrumpft. Und es vermittelt Geborgenheit, während ein Steak einen irgendwie schon wieder in den Kampf treibt …
Beim Verzehr bildet sich im Körper ein kleiner Wärmekern, der einen davon überzeugt, dass es die Sonne doch noch gibt. Denn gegen das Wetter kann man nichts tun, aber viel für das Wohlbefinden. Falls Sie statt derlei Küchenweisheit lieber ein vollständiges Rezept hätten: »Butter unter den Reis rühren, drei Minuten ruhen lassen. Parmesan getrennt dazu reichen …«
Kreuzberger Wandverschiebung
Die Größe einer Wohnung lässt sich nur scheinbar in Quadratmetern messen. Wir waren eingeladen in eine Kreuzberger Wohnung, die mir labyrinthisch und groß vorkam. Sie atmete noch den Geist der Hausbesetzerzeit, der frühen Wohngemeinschaften. Es gab einen gemütlich vollgestellten Flur, zwischen dessen Schränken und Regalen überall offene Türen in Zimmer führten, auf deren Sofas Kinder unterschiedlichsten Alters herumlümmelten oder »Harry Potter« guckten, während die Erwachsenen sich in der Küche versammelten, an einem langen Holztisch. Die Urbewohnerin lebt hier schon seit 25 Jahren, ihr Lebensgefährte kam vor zehn Jahren dazu, Kinder brachten beide mit, außerdem haben sie gemeinsame, ganz blickte ich da nicht durch.
Von den übrigen Fetengästen kapierte ich so viel, dass sie alle irgendwie zusammengehörten, teils hatten sie in Nicaragua die Revolution unterstützt, teils in der BRD eine erhofft, wenn auch nicht gerade den Fall der Mauer, und jetzt beobachteten sie mit Sorge das Ansteigen des Mietspiegels in Kreuzberg. Neuerdings wollen dort auch Leute wohnen, die niemals eine Revolution unterstützen oder ein Haus besetzen würden, Ingenieure, die für den Bau des neuen Flughafens so gut bezahlt werden, dass sie über Kreuzberger Mieten nur lachen können. Dabei ist es für Neumieter jetzt schon so teuer, dass unser Gastgeber sich seine Wohnung gar nicht leisten könnte, bezöge er sie jetzt. Er schlägt sich mit Projekten durch, wie fast alle nicht fest angestellten Akademiker in Berlin. Und innig liebt er seinen Raucherbalkon.
Er war einst aus Westfalen nach Westberlin gekommen, weil er »nicht in Deutschland, aber auch nicht im Ausland leben« wollte. Hier habe er eine neue Familie gefunden, womit er die »Szene« meinte. Das alles floss ein in meinen Eindruck von dieser Wohnung. Sie war vernetzt mit einem virtuellen Dorf aus Freunden und mit Südamerika, in der Küche saßen Westfalen und Mexikaner nebeneinander, irgendwo waren noch zwei Karren mit sanft schlummernden Einjährigen abgestellt worden – mir kam diese vierte Etage wie eine ganze Welt vor. Später rechnete ich durch, wie viele Zimmer es waren, und kam auf drei. Drei Zimmer plus Küche. Es konnten kaum mehr als hundert Quadratmeter sein, den Balkon nicht gerechnet. Aber sie fühlten sich an wie doppelt so viele.
Ich habe mal in einer WG am Prenzlauer Berg gewohnt, die tatsächlich doppelt so groß war. Im Flur konnte man Fahrrad fahren. Aber die gefühlte Grundfläche reichte nicht mal bis zur Wand. Die Leute, die da wohnten, gehörten nicht zusammen und waren falsch gelandet, dauernd zog jemand ein und wieder aus. Wenn aber jemand sein Nest gefunden hat, kommen die Freunde und bringen weitere Freunde mit. Dann fehlen Stühle, aber die Wohnung wächst mit ihren Aufgaben. Ich könnte schwören, dass die Wand dieser Kreuzberger Küche an dem Abend noch um einen halben Meter nach außen gewandert ist.
Verlorene Illusionen
Manchmal frage ich mich, wozu da eigentlich die Regale mit den Romanen im Zimmer stehen. Ich finde nichts Passendes mehr, dabei ist nicht mal die Hälfte gelesen. Ich mag alle diese Bände, ich weiß, dass sie gut sind, die Farben und Formen der Bücher und ihre Anordnung sind altvertraut – vielleicht zu vertraut? In »Die Brüder Karamasow« fand ich eine Quittung aus dem späten 20. Jahrhundert als Lesezeichen auf Seite 51. So weit bin ich wohl schon mal gekommen, dachte ich, warum blieb ich da stecken?
Da stand: »Ich glaube, die Ankunft seiner beiden Brüder, die er bis dahin überhaupt noch nicht gekannt hatte, machte einen ungewöhnlich starken Eindruck auf ihn.« Dass dieser Satz jetzt keinen Eindruck auf mich machte, ist nicht Dostojewskys Schuld. Man muss sich der Romanwelt hingeben, dann wird man das gar nicht als Satz wahrnehmen, dann muss das einfach so sein. Aber offenbar hatte ich schon vor 15 Jahren nicht mehr die Geduld, so weit hineinzugeraten. Ich bin zu kurzatmig für das russische 19. Jahrhundert.
Dann eben Balzacs »Verlorene Illusionen« zum zweiten Mal lesen! Aber auch da blieb ich jetzt hängen, beim ersten Liebesdialog. Das ist eigentlich ein Monolog, in dem der junge Mann, Erbe einer schäbigen Provinzdruckerei, der jungen Frau in allen Einzelheiten die Geschichte des Papiers erklärt. Und das abends auf einer Brücke über die Charente! Nachdem David »auf die feuchte, zitternde Hand Eves« eine Träne hat fallen lassen, hält er ein mehrseitiges, musterhaftes Referat. Irre.
Damals hat das meine Lektüre nicht gestoppt. Vielleicht waren mir Liebesdialoge egal, und Balzacs Sachkenntnis beeindruckte mich. Wie ihn selbst; er wollte diese Papiergeschichte ja um jeden Preis unterbringen. Dass er damit eine Liebesszene verwüstete, war ihm egal. Obwohl: Es gibt wirklich Leute, die den Ansturm von Emotionen so bizarr kanalisieren, wie Katzen, die sich wahnsinnig über die Wiederkehr ihres Personals freuen, aber sich scheinbar völlig desinteressiert erstmal das Fell putzen.
Wahrscheinlich habe ich eine Romanphobie entwickelt, eine Angst vor dicken Büchern. Aber es gibt eine Therapie. Ich las jetzt in einem Roman, den ich zum Verschenken gekauft habe. Ganz vorsichtig, damit er nicht benutzt aussieht, das Lesebändchen darf nicht bewegt werden, und die Zeit bis Weihnachten reicht eh nicht. Und tatsächlich, es ist spannend! Die Limitierung verschärft den Reiz – wie ein Kleid, das die bedeckte Schönheit gerade so ahnen lässt.
Aber für Dostojewsky müsste es schon sehr limitiert zugehen. Ich müsste in einem Flughafen ohne Lektüre festsitzen und unter einem leeren Kaffeebecher die herausgerissene Seite 51 finden: »Ich glaube, die Ankunft seiner beiden Brüder …« Ich würde alles über diese Brüder wissen wollen, alles. Bis ich zu Hause wäre, wo zehn Bände Dostojewsky, currygelb und ungelesen, geduldig warten. Vielleicht sollte ich sie verschenken, dann lerne ich sie mal kennen.
Mathilda, nicht den Jungen hauen!
Wenn ich allein reise, kann ich stundenlang in der Bahn sitzen, ohne einen Menschen kennenzulernen, ohne ein Wort zu wechseln. Mit Kleinkind ist das anders. Es zwingt einen zum Kontakt. Das beginnt schon, wenn man jemanden bitten muss, die Karre in den Zug zu hieven, und im Kleinkindabteil geht es dann richtig los. Kinder stürmen sofort aufeinander zu, wenn sie nicht gerade klitzeklein sind. Sie wollen einander berühren, »nein, Mathilda, nicht den Jungen hauen! Eia machen! Eiei! Ja, so …«, sie interessieren sich für fremdes Spielzeug, »Elias, du musst aber fragen, ob du die Giraffe haben darfst!«, sie nesteln indiskret am Gepäck, »stopp, Frido, das ist nicht unser Koffer …«
Die Erwachsenen sind permanent zum Balanceakt gezwungen. Einerseits wollen sie Neugier und Kontaktfreude der Progenitur unbedingt unterstützen, andererseits Respekt vor Eigentum und Intimsphäre der anderen Reisenden signalisieren. Es begeistert ja nicht jeden, dass mein Kerlchen jeden beweglichen Gegenstand in den Mund nimmt oder wenigstens oral testet, was auch Karrenräder und Koffergriffe einschließt. Neulich griff er sich Plastikmännchen aus dem Arsenal eines Mädchens, die nun wie Beutetiere aus seinem Mund hingen und von mir erstmal getrocknet werden mussten. »Anna Amalia hat das Alter zum Glück schon hinter sich, wo alles in den Mund muss«, sagte ihre Mutter kühl, »und die Köpfe können ja auch abgehen.«
Eigentlich sind so indignierte Eltern aber selten. Meist bildet sich sofort eine Verständnisgemeinschaft,