»Würde mir auch nichts nützen. Denn dann würde jeder fragen, was ich hier oben zu suchen hatte.«
»War nur ironisch gemeint, du Idiot!«
»Ich denke, dir ist nicht nach Scherzen zumute.«
Kaltenbacher bückte sich unter der Stange durch, die als Schutzgeländer diente, richtete sich auf der anderen Seite über dem Abgrund auf, und hielt sich an der Stange fest. »Ich warte nicht ewig. Wenn du zugucken willst, kann ich dich nicht daran hindern.«
»Dann warte bitte noch ein paar Minuten, damit ich vorher verschwinden kann!« Der Mann wandte sich zur Leiter. »Schade drum! Sehr schade!«
»Um mich ist es nicht schade.«
»Mag sein, das kann ich nicht beurteilen, weil ich dich nicht kenne. Ich meinte aber: Schade um die gute Gelegenheit für einen Einbruch. Aber vielleicht auch nicht schade, wenn ich an Carola denke …«
Jens Kaltenbacher tauchte wieder unter der Stange durch zurück. »Meinst du, es wäre schade um mich, wenn du mich kennenlernen würdest?«
»Keine Ahnung. Kommt drauf an, was ich da finden würde, wenn ich in deinem Leben und deinem Wesen nachforsche. Aber so ganz allgemein denke ich, es ist um jeden schade, der sein Leben wegwirft. Es sei denn, er ist ein total fieser Typ – egoistisch, rücksichtslos, einer, der gewissenlos seinen Vorteil durchsetzt auf Kosten anderer. Bist du so einer? Dann wäre es nicht schade um dich.«
»So einer bin ich nicht. Im Gegenteil, ich bin das Opfer solcher Leute.«
»Dann wäre es auf jeden Fall schade um dich. Aber du hast mich falsch verstanden. Ich meinte eben, dass mir die Chance entgeht, einen kleinen Raubzug durch dieses Gebäude zu machen. Oh – da fällt mir was ein, was uns beiden nützen könnte. Eine Win-Win-Situation sozusagen.«
»Ach ja?«
»Wir steigen gemeinsam ein. Wenn wir nichts finden, oder nicht viel, kannst du ja immer noch springen. Aber vielleicht finden wir etwas sehr Wertvolles. Unten ist, glaube ich, ein Uhrengeschäft, oder ein Juwelier. Dann teilen wir die Beute. Ich habe den Vorteil, dass ich zum Zug komme und nicht von der Polizei gestört werde. Und du hast den Vorteil, na ja, dass du vielleicht mit deiner Beute dich von einem Teil deiner Sorgen loskaufen kannst.«
»Du hast wirklich originelle Ideen!«
»Komm, mach mit! Auf ‘ne halbe Stunde kommt es doch nicht an, wenn du Schluss machen willst.«
»Meine Sorgen kann man nicht mit Geld loswerden.«
»Sag das nicht! Du ahnst ja nicht, was man mit Geld alles kann!«
»Besonders, wenn es unrechtmäßig erworben ist.«
»Jetzt werde mir nicht moralisch! Was du gerade tun wolltest, ist auch nicht die edelste Handlung.«
Während er das sagte, machte der Mann sich an dem Fenster zu schaffen. In weniger als einer Minute war es offen.
Kaltenbacher staunte. »Du hast anscheinend Übung.«
»Kann man sagen. Bitte, der Herr!« Er verbeugte sich und machte eine einladende Bewegung mit der Hand. »Darf ich bitten, näherzutreten?«
Jens Kaltenbacher schüttelte nur den Kopf. Er lehnte sich über das Geländer und blickte in die dunkle Tiefe.
Der andere wandte sich vom Fenster ab und kam auf ihn zu. Es war offensichtlich, dass er den Selbstmord des traurigen Mannes verhindern wollte, aber er wusste nicht wie. Er setzte sich auf die Bohle, die Beine hingen über dem Abgrund. Daraufhin setzte Jens sich auch.
»Ich heiße übrigens Karl. Karl Aumann. Das kann ich bedenkenlos sagen, weil du entweder da runterspringen wirst – dann wird es kaum noch möglich sein, mich zu verraten. Oder du gehst mit mir da rein und teilst mit mir die Beute. Dann wirst du sicher auch nichts verraten, weil du beteiligt bist.«
Kaltenbacher antwortete nicht.
»Und wie heißt du, wenn ich fragen darf?«
»Jens Kaltenbacher.«
»Angenehm. Und?«
»Was – und?«
»Ich meine, was ist dein Problem? Sag‘s mir! Gut, einen Rat werde ich dir kaum geben können. Schade, dass meine Carola nicht hier ist, die wüsste wahrscheinlich, was man da … Na ja, wenn sie hier wäre, wäre ich wohl nicht hier.«
»Was quasselst du da für einen Unsinn?«
»Schon gut. Erzähle mir, was dich bedrückt! Es soll ganz nützlich sein, wenn man mal über seine Probleme redet. Habe ich gehört. Oder sogar gelesen.«
Als Jens nicht antwortete, fügte er hinzu: »Wenn man mal spricht mit einem vertrauenswürdigen Menschen.«
»Ach, das bist du wohl? Ein vertrauenswürdiger Einbrecher?«
»Gut, ich gebe zu, ich bin nicht das, was man sich landläufig unter einem ehrbaren Bürger vorstellt. Aber ich würde mich, glaube ich, trotzdem gut eignen als … als Mülleimer, bei dem du den ganzen Mist abladen kannst. Wenn du verstehst, was ich meine.«
Sie schwiegen beide einige Zeit. Unten fuhr ein einzelnes Auto vorbei. Irgendwo in der Stadt schlug eine Uhr, aber keiner von beiden machte sich die Mühe, die Schläge mitzuzählen.
Dann fing Kaltenbacher auf einmal an: »Sie haben mir die Wohnung gekündigt. Heute. Aber das alleine ist es nicht. Erst hat mich meine Frau verlassen.«
»Hatte sie einen anderen?«
»Weiß nicht. Ich glaube nicht. Es war einfach … wahrscheinlich war ich auch schuld.«
»Hattest du eine andere?«
»Nein. Ich habe mich wohl nicht so richtig um die Familie gekümmert und dafür eingesetzt. Aber sie war auch zu … Nein, ich will es nicht auf sie schieben.«
»Eine sehr edle Einstellung, wo sie nun nicht da ist, um sich zu verteidigen. Kinder?«
»Mein Sohn ist jetzt elf. Er ist bei ihr.«
»Seht ihr euch?«
»Nein.«
»Dann hast du dich nicht darum bemüht, ihn sehen zu dürfen?«
Kaltenbacher schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Ja – warum nicht? Weißt du, ich wäre wohl gern so ein Typ wie du. Abgesehen natürlich von deiner verbrecherischen Tätigkeit, die finde ich schlecht. Aber sonst – du gehst auf die Dinge zu, du packst ohne Scheu heiße Eisen an, wenn ich dich richtig einschätze. Ich kann das nicht. Vielleicht war ich meiner Frau auch darum nicht männlich genug. Jedenfalls war das aber auch ein Grund, weshalb ich meine Arbeit verloren habe. Mein Chef meinte, für die Stellung, die ich hatte, würde es mir an Initiative fehlen. Er hat meiner Meinung nach insgesamt Unrecht, denn da spielt auch Mobbing eine Rolle. Aber es ist wohl auch etwas Wahres dran. Versteh mich recht, gekämpft habe ich schon. Für meine Begriffe auch heftig. Aber absolut gesehen, war es wohl nicht genug. Für mich ist es ein großer Schritt, dass ich Schluss machen will.«
»Es ist sicher ein Schritt in die falsche Richtung.«
»Mag sein. Aber einen anderen Schritt weiß ich nicht.«
Darauf hatte Karl Aumann keine Antwort.
»So, nun weißt du es. Wenigstens das Wichtigste. Und? Fühle ich mich erleichtert, dass ich es dir erzählt habe? Nein!«
»Hm. Und die Kündigung deiner Wohnung war der unmittelbare Anlass, dass du nun die Sache beenden willst? Ich meine, dein Leben?«
Jens nickte.
»Wie heißt denn dein Vermieter?«
»Larsen. Der hat hier in dem Viertel mehrere Häuser. Warum fragst du?«
»Larsen? Oh, dann ist das wohl der, dem das Geschäft hier unten gehört?«