Sein letzter Zug. Eckart zur Nieden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eckart zur Nieden
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783865068224
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Sogar von mir selbst. Mancher wird sogar klammheimliche Freude empfinden. Egal! Was andere fühlen könnten, ist mir egal! Es war ihnen ja auch egal, was ich empfunden habe. Niemand wird um mich trauern, und ich trauere um niemanden.

      Nein, das stimmt nicht ganz. Mit Arno verbindet mich vielleicht doch noch etwas. Immerhin ist er mein Sohn. Er ist jetzt … Moment … elf Jahre alt. Ob er trauert, wenn er es erfährt? Vielleicht ein wenig, eine begrenzte Zeit. Ehrlich gesagt – wenn er nicht länger trauert, liegt es wohl auch an mir. Ich hätte mehr um ihn kämpfen sollen, statt um meine Selbstbehauptung zu kämpfen.

      Was grübele ich denn da!, ermahnte Jens Kaltenbacher sich selbst. Eben war es mir noch gleichgültig, was andere über mich denken. Warum soll mir mein Sohn nicht auch gleichgültig sein? Es ist doch Unsinn, wenn manche Leute sagen, sie lebten in den Kindern weiter. Nein, die Kinder sind eigene Persönlichkeiten mit ihrem eigenen Leben. Wenn ich nicht mehr lebe, ist nichts mehr von mir da. Auch nicht im Leben meines Kindes. Wahrscheinlich noch nicht einmal in seiner Erinnerung.

      Ich wäre vielleicht lebendiger in seiner Erinnerung geblieben, wenn mir das wichtig gewesen wäre. Wenn er, Arno, mir wichtig gewesen wäre. Wichtiger vielleicht sogar als ich mir selbst. Wenn ich zum Beispiel an seinem Geburtstag … oh, der war ja vorgestern! Habe ich in meinen Sorgen auch vergessen.

      Jens wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als er irgendwo gegen rannte. Ein Schmerz am Kopf durchzuckte ihn. Da sah er es im schwachen Licht der Straßenlaternen: Vor dem großen Gebäude rechts war ein Gerüst aufgebaut. Anscheinend sollte die Fassade gestrichen oder neu verputzt werden. Dass die Leute keine Warnung … ach, da hing ja eine Laterne! Er hatte sie nicht bemerkt, weil sein Blick nach innen gerichtet gewesen war.

      Kaltenbacher sah an dem Gerüst hoch. Ein Gedanke kam ihm: Ich könnte auch da herunterspringen! Von ganz oben, fünfter Stock, hinunter auf die Straße. Da erspare ich mir den Weg zur Brücke. Man würde mich auch schneller finden.

      Verrückt, dass mir jetzt der Gedanke unangenehm ist, dass ich im Industrieviertel unter Umständen tagelang unentdeckt liegen könnte. Ist doch eigentlich egal, was mit den Resten von mir passiert.

      Trotzdem sah er sich um, ob es eine Möglichkeit gab, auf das Gerüst zu kommen. Weiter oben gab es Leitern von einer Arbeitsebene zur nächsten. Hier unten aber nicht. Natürlich – Unbefugte sollten nicht hinaufsteigen können, weder Selbstmörder noch Einbrecher noch spielende, abenteuerlustige Kinder.

      Da hing ein großes Schild, das er in dem schwachen Licht nur mit Mühe lesen konnte: »Betreten der Baustelle verboten. Eltern haften für ihre Kinder.« Also, sollte mein Junge da raufklettern, müsste ich haften. Umgekehrt aber muss er nicht haften, wenn ich klettere. Für mich haftet niemand. Ich bin ganz allein für meine Handlungen verantwortlich.

      Kaltenbacher war zweiundvierzig und nicht unsportlich. Dass er anderen so erschien, lag wohl mehr an seelischen als an körperlichen Mängeln. Also umfasste er einen der Ständer und zog sich hoch, sein Fuß fand Halt auf einem schrägen Holm, und dann konnte er sich auf eine schmutzige Bohle wälzen, etwa zweieinhalb Meter über dem Bürgersteig.

      Dass seine Hose dabei einen Riss bekam, war kein Verlust. Es würden bald noch mehr Risse und Blutflecke dazukommen. Nun kletterte er auf den Leitern weiter nach oben, immer höher, bis es nicht mehr weiterging.

      Jens setzte sich auf die Bohle, um zu Atem zu kommen. Nun, eigentlich brauchte er keinen Atem, um zu springen. Aber … aber … was aber? Es gab kein Aber. Trotzdem saß er eine Weile da.

      Wenn ich da unten angekommen bin – was dann? Ich habe dem Leben ein Schnippchen geschlagen, diesem Leben, das eigentlich keines mehr war. Und all den Kämpfen und Enttäuschungen und Niederlagen. Und all den Menschen, die mich hassen oder verachten oder denen ich gleichgültig bin. Dann kann mir keiner mehr was! Keiner kann mich beleidigen und verletzen, keiner mehr Ansprüche an mich stellen.

      Kaltenbacher stand langsam auf.

      »He! Du!«

      Ein Schreck durchzuckte ihn. Was war das? Wer redete da? War er denn nicht allein hier oben? Konnten die Leute ihn denn nicht mal hier in Ruhe lassen, nicht mal in den letzten Augenblicken seines Lebens?

      Knarrende Geräusche, dann spürte er das Vibrieren des Brettes unter seinen Füßen. Er sah sich nach rechts und links um. Nach vorn war ja wohl nicht nötig, und hinter ihm war die Wand, darüber begann die Dachschräge.

      Von links kam eine Gestalt auf ihn zu. Etwa fünf Schritte entfernt blieb sie stehen. Ein Mann offenbar.

      »Was machst du hier?«

      Einige Augenblicke hing die Frage in der Luft. Dann murmelte Jens: »Das könnte ich auch fragen.«

      »Ich rate mal«, sagte der andere. »Entweder hast du mich beobachtet, wie ich hier rauf geklettert bin, und bist dadurch auf die Idee gekommen, auch einzubrechen. Oder du hast selbst von unten das schräg gestellte Fenster gesehen.«

      »Was für ein Fenster?«

      »Frag nicht so doof! Dieses Fenster hier. Ein schneller Griff, und es ist offen. Und ich bin im Nu drin. Der Chef hätte seinen Angestellten in diesem Bürohaus sagen sollen, dass man kein Fenster über Nacht schräg gestellt lässt, wenn ein Gerüst vor dem Haus steht.«

      »Sie wollen wohl einbrechen?« Das war natürlich erst recht eine dumme Frage, aber Kaltenbacher wusste nichts Sinnvolleres zu sagen.

      »Oh – wir sind per Sie! Wie vornehm! Würde der Herr so freundlich sein und mir den Zweck seines Besuches hier in luftiger Höhe verraten? Hatte der Herr etwa nicht die Absicht, dieses Haus durch ein Fenster zu betreten?«

      »Nein.«

      »Nein? Und welche Absicht hatte der Herr sonst? Die schöne Aussicht kann wohl kaum der Grund gewesen sein bei dieser Dunkelheit. Was … oder …« Der Mann vergaß alle Ironie. Jens hörte es an der Stimme. »Oder wolltest du etwa …?« Er deutete nur mit der linken Hand zur Straße hinunter.

      »Das geht dich nichts an!«, murmelte Kaltenbacher.

      »Stimmt. Geht mich nichts an. Abgesehen davon, dass es sein könnte, dass ich ein schlechtes Gewissen kriege. Hinterher, wenn ich keinen Versuch gemacht habe, dich davon abzuhalten.«

      »Im Gegenteil. Du kannst ein ruhiges Gewissen haben, wenn du mir nichts in den Weg legst. Ich will ja da runter. Ich sehne mich danach.«

      Eine Weile schwieg der andere. Dann murmelte er: »Scheiße!«

      »Verschwinde! Meinetwegen da in das Fenster, aber verschwinde!«

      »So einfach geht das nicht! Meinst du, ich kann dir einfach gelassen den Rücken zukehren, wenn ich weiß, dass du im nächsten Moment da runterspringst?«

      »Warum nicht?«

      »Mann, ich habe keine Erfahrung mit so was! Was sagt man da?«

      »Halt einfach die Klappe und sag nichts! Alles, was du sagen könntest, habe ich mir schon selbst gesagt.«

      »Und? Hörst du nicht darauf?«

      »Sehr witzig! Aber mir ist nicht nach Witzen zumute. Auch nicht nach psychologischen Ratschlägen, falls dir noch einer einfallen sollte. Und nicht nach vernünftigen Überlegungen und nicht nach warmen Worten. Ich will nur Schluss machen.«

      »Schluss. Aha. Und du bist sicher, dass dann Schluss ist?«

      »Was denn sonst? Du kommst mir doch jetzt nicht mit Himmel und Hölle und so was?«

      »Mir fällt gerade noch ein Grund ein, weshalb ich dich davon abhalten sollte.«

      »Du kannst mich nicht davon abhalten.«

      »Der Grund ist: Das gibt vielleicht Lärm. Oder jemand sieht dich, oder entdeckt deine … also entdeckt dich kurz danach. Dann wimmelt es hier bald von Polizei. Und was mache ich dann? Ich kann mir meinen Einbruch abschminken!«

      »Du tust mir unendlich leid!«

      »Oder noch schlimmer: Jemand entdeckt mich hier oben und ich werde beschuldigt,