Eckart zur Nieden
Sein letzter Zug
Roman
Inhalt
Um 1348 Ein Dorf zwischen Straßburg und Köln zur Zeit der großen Pestseuche
Um 1538 Eine Kleinstadt zur Zeit der Reformation
Um 1631 Magdeburg zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges
Um 1732 Eine Kleinstadt zur Zeit der Aufklärung
Um 1849 Eschenbach/Hessen zur Zeit der Deutschen Revolution
Da es in dieser Erzählung um die Generationenfolge geht, widme ich sie meinen vier Enkeln:
Marilena, Samuel, Anastasia und Nathanael.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-86506-822-4
© 2015 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelfotos: fotolia: Thomas Otto, Bertold Werkmann, steven, vik_y
shutterstock: Donna Beeler
Satz: Brendow Web & Print, Moers
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
D E R L E B E N S M U T verließ Jens Kaltenbacher am zwölften Mai gegen elf Uhr dreißig.
Das Datum ist bemerkenswert, weil ein solches Ereignis, wenn es sich überhaupt auf Tag und Stunde festlegen lässt, eher an einem grauen Novembertag eintritt, und nicht im sonnigen Frühling. Wenn rundum die Natur zum Leben erwacht, erscheinen Gedanken an den Tod eher unpassend.
Der Anlass war bei Jens Kaltenbacher auch fast banal, verglichen mit all den anderen Schicksalsschlägen, die er bisher schon hatte hinnehmen müssen: Der Vermieter hatte ihm gekündigt. Der Brief war mit der Post gekommen.
Der Verlust der Wohnung war ja nicht schlimmer als der Verlust seiner Ehefrau, die ihn vor Jahren samt seinem Kind verlassen hatte, und der Verlust seiner Arbeit. Und der Verlust seines Selbstwertgefühls. Die Kündigung war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Ach nein, diese Redewendung malt ein falsches Bild. Besser sollte man sagen: Es war der letzte Tropfen, der aus dem Fass sickerte. Nun war Jens Kaltenbacher leer.
Stundenlang hockte er in dem alten Korbsessel und brütete vor sich hin. Ach nein, auch das Wort »brüten« zeigt ein falsches Bild. Beim Brüten helfen die Vögel ja bei der Entstehung neuen Lebens, indem sie etwas von ihrer Körperwärme abgeben. Aber Jens ging es weder um neues Leben noch war Wärme in ihm. Im Gegenteil – je länger er da saß und seinen Gedanken und Gefühlen nachhing, desto kälter wurde es in ihm.
Als er schon seit Stunden da saß – es war inzwischen dunkel geworden – durchzuckte ihn auf einmal ein Gedanke: Warum sitze ich schon wieder nur tatenlos da, kämpfe mit meiner Trauer und mit der Erinnerung an alle Niederlagen, statt endlich damit Schluss zu machen?
Er stand auf mit einer Entschlossenheit, die er schon seit langem nicht mehr gezeigt hatte.
Er fasste den Entschluss, im Industriegebiet von der Brücke auf die Eisenbahngleise zu springen. Das war ein Plan mit doppelter Sicherheit: Sollte er den Sturz überleben, würde ihn der nächste Zug überfahren. Nun wurde er seltsam ruhig.
Jahrelang hatte er gekämpft – um seine Ehe, um seine Ehre, um seinen Wert in der Gesellschaft und in den eigenen Augen. Nun ja, auch das Wort »kämpfen« mochte nicht ganz passend sein. Eher hatte er etwas ersehnt, aber seine Mühe darum war halbherzig geblieben, weil ernsthafter Streit seine Sache nicht war.
Jetzt war er müde und konnte nicht mehr. Jahrelang hatte er festhalten wollen, was nicht zu halten war, weil es ihm wie Sand durch die Finger rann. Jetzt ließ er los, und das empfand er als Erleichterung.
Jens verließ die Wohnung, die ihm nun sowieso kein Zuhause mehr sein konnte. Er schloss ab und legte den Schlüssel unter die Fußmatte. Dafür gab es freilich keinen einleuchtenden Grund, aber er konnte sich in dieser besonderen Situation unmöglich über jeden kleinen Schritt Rechenschaft abgeben.
Einen Abschiedsbrief schrieb er nicht. Davon hielt er nichts.
Was bezweckt denn ein Selbstmörder mit einem Abschiedsbrief? Sollen den Hinterbliebenen Schuldgefühle bereitet werden? Nach dem Motto: Seht nur, wie schlecht es mir ging, und niemand hat mich verstanden und sich um mich gekümmert! Oder: Nun seht ihr, dass es mir ernst war! Oder soll ein Abschiedsbrief eine Erklärung sein, wo der Schreiber geblieben ist – wenigstens solange, bis man seinen Leichnam gefunden hat?
All das konnte für Jens Kaltenbacher kein Grund sein. Es gab niemanden, der nach ihm fragen oder sich seinetwegen Sorgen machen würde.
Und sollte doch jemand von den neugierigen Nachbarn fragen, wo denn dieser verschlossene Mann geblieben ist, mittelgroß, mittelalt, und seiner nachlässigen Kleidung nach zu urteilen wohl auch mittellos, dann interessierte ihn das nicht. Er fand keinerlei Befriedigung darin, sich auszumalen, wie er von fremden Menschen im Nachhinein bedauert würde. Die einzige Befriedigung für ihn war, dass er jetzt mit dem Kämpfen aufhören konnte. Einfach nichts mehr tun, nicht festhalten wollen, was nicht zu halten war, nichts erhoffen müssen, was doch nie kam.
Er schlurfte zur Treppe. Beim Hinuntersteigen wäre er fast gefallen, weil er mit seinen Gedanken ganz woanders war, und konnte sich gerade noch am Geländer festhalten. Nein, das durfte jetzt nicht passieren! Verletzung, Poltern, jemand riefe den Krankenwagen, Ärzte, Untersuchungen … Und wieder müsste er sich dem Lebenskampf stellen, statt endlich das alles zu beenden.
Niemand war auf der Straße. Wie auch? Es musste so gegen Mitternacht sein, vielleicht auch erst elf. Da schliefen hier im Wohngebiet die Leute. Gut so!
Er trottete die Straße hinunter. Es ging leicht bergab. So wie es in seinem Leben immer bergab gegangen war, Schritt für Schritt. Es ging ihm durch den Kopf: Aber irgendwann ist man unten. Das hat dann den Vorteil, dass es nicht mehr weiter hinuntergeht. Bald bin ich auch ganz unten. Gut, wenn ich