Die tiefe Freundschaft dient nicht allein einem bestimmten Zweck. Sie ist mehr. Sie baut darauf, dass sich zwei Menschen zusammen tun, die sich mögen, sich sympathisch finden, sich vertrauen und füreinander einstehen. Eine Freundschaft wird dann zur tiefen Freundschaft, wenn die gemeinsamen Interessen nicht mehr die tragenden Säulen bilden, sondern von einem Selbstverständnis an sich abgelöst werden. Man muss nicht länger begründen, warum ein Freund ein Freund ist. Es ist eben ein Freund. So hat es auch der französische Philosoph Michel de Montaigne vor knapp 500 Jahren zum Ausdruck gebracht, der über seine tiefe Freundschaft zu Étienne de La Boétie schrieb: „Wenn man in mich dringt, zu sagen, warum ich ihn liebte, so fühle ich, dass sich dies nicht aussprechen lässt, ich antworte denn: Weil er er war; weil ich ich war.“ (Michel de Montaigne: Von der Freundschaft, S.13) De Montaigne führt weiter eine seelische Verbundenheit an und bemüht das Bild von einer Seele in zwei Körpern. Es stimmt also nicht nur die Chemie zwischen den Freunden, sondern es besteht eine tiefgreifende Verbundenheit, eine Verpflichtung, die nicht nur gefühlt wird, sondern ein Selbstverständnis darstellt.
Die Kraft, die Freundschaften zusammenhält, ist Liebe. Liebe will dem anderen Gutes. Und gut ist, was der Freund als gut empfindet. Aristoteles führt an dieser Stelle an, dass es für eine tiefe Freundschaft eines tugendhaften Charakters bedarf: „Die aber dem Freund um seiner selbst willen Gutes wünschen, sind Freunde im vollkommenen Sinne, weil sie diese Gesinnung an sich, nicht mitfolgend, haben.“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik, S.215) Es geht also nicht in erster Linie um mich, wenn ich meinem Freund Gutes tue, sondern um ihn. Ich möchte zu seinem Glück beitragen. Aristoteles bezieht sich hier auf den Charakter eines Freundes, der dem anderen Gutes wünscht, ohne dass der andere diesen Wunsch erst erzeugen müsste. Er ist da, weil einer für sich beschließt, seinem Freund Gutes zu tun.
Als 350 Jahre nach Aristoteles Jesus Christus gefragt wurde, wie er seine gute Botschaft in einem Satz zusammenfassen würde, antwortete er mit dem bekannten Doppelgebot der Liebe: „Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.“ Und er fügt hinzu: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Matthäus 22, 37–39) Dieses Gebot stellt bis heute unverändert eine der größten Herausforderungen der menschlichen Existenz dar. Und jeder, der sich entschieden hat, von sich aus mit Freunden wie mit Fremden freundlich, aufrichtig, annehmend, respektvoll, vorurteilsfrei, ehrlich und wohlwollend umzugehen, weiß, wie schwierig das oft ist. Gleichzeitig sind wir alle von dem Wunsch erfüllt, von solchen Menschen umgeben zu sein.
De Montaigne führt das Doppelgebot der Liebe weiter aus, wenn er schreibt: „Denn ebenso, wie die Freundschaft, die ich zu mir hege, nicht durch den Beistand vermehrt wird, den ich mir in der Not bringe, was auch die Stoiker darüber sagen mögen; und wie ich mir keinen Dank für den Dienst weiß, den ich mir leiste: ebenso lässt die Verbindung solcher Freunde, wenn sie wirklich vollkommen ist, sie das Bewusstsein solcher Pflichten verlieren und zwischen ihnen diese Worte der Trennung und Unterscheidung verabscheuen und verscheuchen, die heißen: Wohltat, Schuldigkeit, Erkenntlichkeit, Bitte, Dank und dergleichen.“ (Michel de Montaigne, S.15) Mit anderen Worten: De Montaigne sieht keinen Widerspruch zwischen Selbstliebe und der Liebe zum Freund. Es ist völlig selbstverständlich, dass ich für mich selbst sorge, mir selbst helfe und für mich selbst kämpfe, wenn ich in eine schwierige oder bedrohliche Situation gerate. Ebenso zögere ich nicht, für einen Freund einzustehen, wenn er in Bedrängnis gerät. Da braucht es keine Bitte, da muss keiner in der Schuld des anderen stehen, schon gar nicht wird da eine Wohltat erbracht. Freunde helfen sich, weil sie Freunde sind. Es ist eine Selbstverständlichkeit, da wird nicht die Hilfe des einen gegen die des anderen aufgerechnet. In tiefen Freundschaften stellen sich die Freunde auf eine Ebene. Wenn es dem einen nicht gut geht, geht es auch dem anderen nicht gut. Echte Freunde halten zusammen und unterstützen sich gegenseitig so gut sie können, ohne Bedingungen aufzustellen, sondern weil es sich von selbst versteht.
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