Vielleicht lesen Sie dieses Buch, weil es Ihnen nicht leicht fällt, Freundschaften einzugehen. Und das Wissen, dass es in der Regel viel Zeit braucht, Freundschaften aufzubauen, wirkt eher entmutigend auf Sie. So ist es aber vielleicht tröstlich, dass Sie sich schon heute freundschaftlich verhalten können. Ob Sie einen Freund finden, liegt nicht allein in Ihrer Macht. Sie entscheiden aber, ob Sie den nächsten Menschen, dem sie begegnen, anlächeln. Es liegt bei Ihnen, einem Menschen, der Ihnen über den Weg läuft, Ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist nicht entscheidend, ob Ihr Gegenüber positiv darauf reagiert. Entscheidend ist, ob Sie Ihren eigenen Maßstäben gerecht werden.
Haben Sie sich beispielsweise vorgenommen, beim nächsten Einkauf an der Supermarktkasse dem Kassierer freundlich und aufmerksam gegenüber zu treten, könnte es gelingen, dass Sie sich mit dem Kassierer einen Augenblick lang emotional verbinden. Vielleicht gelingt Ihnen eine lustige Bemerkung, mit der Sie ein Lächeln auf sein Gesicht zaubern. Vielleicht starrt er auch nur angespannt vor sich hin und Sie erkennen, dass er auch schon einen anstrengenden Tag hinter sich hat, weshalb er auf Ihre Einladung nicht eingeht. Entscheidend ist, ob wir uns freundlich benehmen, denn unser Verhalten unterliegt allein unserer Steuerung. Dann werden wir auf Menschen stoßen, die unseren freundschaftlichen Umgang zu schätzen wissen. Und vielleicht ist das schon der Beginn einer langen Freundschaft.
2.
Vom Wesen der Freundschaft
„Wollen wir Freunde sein?“ fragt die kleine Hannah ihren neuen Spielkameraden. Florian nickt kurz und bestätigt seine Antwort mit einem zackigen „Ja klar!“. Hannah und Florian sind nun Freunde. Die Sache ist rasch geklärt und sie vertiefen sich wieder in ihr Spiel.
Während Kinder nur einen Augenblick benötigen, um ihre Freundschaften zu besiegeln, nehmen Erwachsene sich oft sehr viel mehr Zeit, um sich auf einen anderen Menschen einzulassen. Wir sind einfach nicht mehr so spontan wie in jungen Jahren. Unsere Welt und unser Denken sind komplexer geworden. Wir haben negative Erfahrungen gesammelt, wir vertrauen nicht mehr jedem. Wir haben genaue Vorstellungen davon, was zu uns passt und wer zu uns passt, haben unsere Vorurteile ausgebildet Und bevor wir eine engere Beziehung eingehen, prüfen wir, ob unser Gegenüber vertrauenswürdig erscheint.
Einerseits sind wir vorsichtig, weil wir Angst haben, verletzt zu werden. Andererseits hegen wir einen tiefen Wunsch nach Beziehungen zu Menschen, denen wir vertrauen können. Um uns aus diesem Zwiespalt befreien zu können, lohnt es sich anzuschauen, was Freundschaft im Kern ausmacht.
Freundschaft ist Liebe
Freundschaft ist eine Variante der Liebesbeziehung. Mit dieser Begriffsbestimmung weiche ich von dem heute üblichen Gebrauch des Wortes „Liebe“ ab, mit dem zumeist eine erotische Beziehung beschrieben wird. Diese Verwendung empfinde ich als zu einseitig. Über Jahrhunderte wurde das Wort Liebe, geprägt durch den christlichen Glauben, im Sinne von Nächstenliebe verstanden. Hier wird in der Regel eine sexuelle Beziehung ausgeschlossen. Wenn ich also von Freundschaft als Liebesbeziehung spreche, meine ich eine liebevolle Beziehung, in der keine Sexualität ausgelebt wird.
In der psychotherapeutischen Fachliteratur findet sich der Begriff Liebe nur selten. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ihm die unterschiedlichsten Bedeutungen zugeschrieben werden, er nicht selten auch instrumentalisiert wird und es deshalb kaum möglich ist, eine allgemeingültige Definition aufzustellen. Auch meine Definition ist nicht immer in jedem Fall zutreffend. Sie kann uns aber eine Orientierung geben und einen Weg weisen in dem Dschungel zwischenmenschlicher Beziehungen.
Liebe heißt auf der Verhaltensebene einander Gutes zu tun. Ein Liebender will, dass es dem anderen gut geht und verhält sich deshalb so, dass er seinen Freund in seinem Wohlergehen unterstützt. Nur der Empfangene kann beurteilen, ob ihm das Verhalten seines Freundes gut tut. Man ist also gut beraten zu unterscheiden, was „lieb gemeint“ ist, möglicherweise aber nach hinten losgeht, und was tatsächlich Liebe ist. Wahre Liebe beglückt den Empfangenden. Ist sich der Gebende unsicher, ob sein Verhalten als liebevoll aufgefasst wird, kann eine Regel des Psychoanalytikers Erich Fromm weiterhelfen: Liebe ist es, wenn es Gegenliebe erzeugt (Erich Fromm: Die Kunst des Liebens).
Liebe heißt auf der emotionalen Ebene, die Gegenwart des Freundes genießen zu können. Wir erfreuen uns an der Anwesenheit unseres Freundes oder unserer Freundin. „Schön, dass Du da bist!“ Es geht hier jedoch nicht nur um schöne Momente, sondern auch um längere Zeitspannen. Dazu gehören auch Menschen, mit denen wir uns hin und wieder gestritten, dann aber auch wieder versöhnt haben und für die wir grundsätzlich Dankbarkeit empfinden, weil sie zu einem Teil unseres Lebens geworden sind.
Aus dieser Definition lässt sich ableiten, dass wir mehrere Eigenschaften mitbringen sollten, wenn wir unsere Freundschaften vertiefen wollen. Wir sollten in der Lage sein, grundsätzlich die Anwesenheit eines Menschen, der uns sympathisch ist, genießen zu können. Das klingt banal, im psychiatrischen Alltag begegne ich aber täglich Menschen, die damit größte Schwierigkeiten haben. Oft suchen sie deshalb professionelle Hilfe bei uns. Darüber hinaus ist es wichtig, dankbar sein zu können. Auch das klingt banal, ist aber ebenfalls keine Selbstverständlichkeit. Als dritte Eigenschaft ist die Freiheit zu nennen, geben zu können. Eng damit verknüpft ist eine vierte Eigenschaft, nämlich empfangen zu können. Auch damit haben viele Menschen Schwierigkeiten, was in der heutigen Zeit paradox erscheinen mag. Einerseits leben viele im Konsumrausch und können gar nicht genug bekommen, auf der anderen Seite existieren aber auch viele Menschen, die ihre Existenzberechtigung über ihre Leistung definieren, die größte Schwierigkeiten damit haben, sich einfach mal beschenken zu lassen und Hilfe anzunehmen.
Bauen wir uns liebevolle Freundschaften auf, dann geben wir uns den Freiraum, sämtliche Lebensbereiche miteinander zu teilen und von Liebe durchdringen zu lassen. Liebe heißt, mitzuleiden, wenn es dem Freund schlecht geht, und sich mitzufreuen, wenn es ihm gut geht. Liebe heißt, ihn zu unterstützen, ihm zu helfen und ihm beizustehen. Liebe heißt auch, dem Freund hin und wieder einen Spiegel vorzuhalten. Ihn zu warnen, wenn wir den Eindruck haben, dass er sich in eine Sache verrennt, und ihn zu beruhigen, wenn er sich in einer Angelegenheit festgebissen hat. Liebe heißt, ihm wieder aufzuhelfen, wenn er über einen Fallstrick oder die eigenen Füße gestolpert ist. Liebe heißt, keine Bedingungen und keine Forderungen zu stellen.
Liebe heißt, Formen von Gemeinschaft zu entwickeln, die beide Beteiligten genießen können.
Liebe heißt, sich anzuvertrauen. Wir lassen die Abwehrmauern gegenüber unserem Freund fallen und erlauben einen unverfälschten Blick auf unser Seelenleben. Liebe heißt, keine Angst zu haben, sondern zu vertrauen und die Sicherheit zu haben, dass unser Freund für uns da ist und behutsam mit dem umgeht, was wir ihm anvertrauen. Wenn wir am Boden liegen, weil wir über unseren Leichtsinn gestolpert sind oder uns ein schwerer Schicksalsschlag getroffen hat, ergreifen wir die ausgestreckte Hand unseres Freundes, der uns wieder aufhilft. Liebe heißt, kritische Fragen unseres Freundes ernst zu nehmen. Liebe heißt, Ohnmachtserleben mitzuteilen und uns an der starken Schulter des Freundes aufzurichten, um wieder sicheren Boden unter unseren Füßen zu spüren.
Freundschaft ist ein Kind der Freiheit
Freundschaft als Verkörperung einer Liebesbeziehung ist immer ein Kind der Freiheit. Es ist unmöglich, Freundschaft zu erzwingen. Das Wohlbefinden in der Gegenwart des anderen kann nicht erzeugt oder produziert werden. Freunde haben eine gewisse Seelenverwandtschaft oder – weniger pathetisch ausgedrückt – die Chemie zwischen ihnen stimmt. Man versteht sich, ist sich sympathisch, hat ähnliche Interessen und Wertvorstellungen. Der respektvolle und achtsame Umgang miteinander lädt dazu ein, allmählich mehr von sich preiszugeben. Wünsche und Bedürfnisse werden mitgeteilt, verletzliche Seiten gezeigt. Diese Schritte geht man nur, wenn man sich frei fühlt. Jede Form von Zwang würde sofort dazu führen, dass