Gesang der Lerchen. Otto Sindram. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Otto Sindram
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783927708464
Скачать книгу

      »Hilfe, Ruth, rette mich, ich bin ein kostbares Mathe-Genie!«

      »Nein, rette mich, ich bin ein künftiger Nobelpreisträger!«, konterte Philipp.

      »Wenn wir noch weiter rausschwimmen, dann müsst ihr gleich mich retten«, meldete sich Ruth.

      Christian war sofort dafür.

      »Oh ja! Ruth retten, komm, wir retten Ruth!«

      Sie schwammen zu ihr zurück.

      »Leg dich auf den Rücken«, bat Christian und fasste sie am Arm unter. Philipp fasste ihren anderen Arm. So drehten sie mit ihr eine große Runde.

      »Herrlich!«, rief Ruth und genoss es, bewegungslos auf dem Wasser zu liegen und doch zu schwimmen.

      Zuletzt schwammen die »Retter« mit ihr auf das Ufer zu, zogen sie noch einige Meter über den Strand und legten sie ab.

      »Wiederbelebung!«, rief Christian, kniete neben sie, holte tief Luft und gab ihr einen langen Kuss. Ruth schaute Philipp an, der kniete ebenfalls nieder und gab ihr einen ebenso langen Kuss. Als Christian sich ihr wieder nähern wollte, wehrte sie ab.

      »Mir wird kalt.«

      Christian holte sein Unterhemd und begann sie damit abzutrocknen. Philipp holte ebenfalls sein Unterhemd und machte es Christian nach. So trockneten sie Ruths Haar und ihren Körper bis zu ihren Füßen. Während die Männer sich anschließend selber abtrockneten, schauten sie sich an. Da wussten sie, dass es geschehen würde. Vom See her wehte ein leichter Wind. Aus den Bäumen am Rande des Uferweges hörte man leise das Rauschen der Blätter, sonst war es still. Drei Menschen aber liebten sich.

      »Wo warst du gestern Abend?«, fragte Sophie am nächsten Morgen auf dem Weg zum Unterricht. »Ich war so traurig, wollte mit dir reden. War noch bei deiner Wirtin, die wusste auch nichts. Ich wollte auf dich warten, aber sie hat mich nicht reingelassen.«

      »Der werd ich mal die Meinung sagen. Da muss ich doch wohl bald ausziehen.«

      »Warst du denn nicht traurig gestern?«

      »Ja«, sagte Philipp, »sehr traurig; ich war spazieren.«

      »Schade, ich wäre gerne mitgegangen.«

      Der Sommer erreichte seinen Höhepunkt, das Semester ging zu Ende. Philipp wollte versuchen einen Interzonenpass zu bekommen. Beinahe ein Jahr hatte er seine Eltern und die Heimat nicht mehr gesehen. Zu seinem Antrag an die Sowjetische Militär-Administration musste er drei Exemplare seines Lebenslaufes schreiben und drei Passbilder beilegen. Weil er sich die Sowjets geneigt für die Genehmigung machen wollte, hatte er seinen Lebenslauf mit den Worten begonnen: Geboren wurde ich als Sohn des Bergarbeiters Paul Siebert ...

      Am letzten Unterrichtstag brachte Seiter die Zeugnisse mit.

      »Es gehen fast alle weiter, bis auf zwei«, sagte er. »Herr Klein hat es geschafft. Sie haben in allen Fächern gute Zensuren, aber in Gesellschaftlicher Arbeit hat es nicht gereicht. Klassensprecher zu sein, das genügt allein wohl nicht.« Er ging auf Wilfried zu und gab ihm die Hand. »Meinen Glückwunsch. Als neuer Klassensprecher ist von der Schulleitung Genosse − oh Verzeihung, Herr Peitz bestimmt worden. Ja, und nun zu dem zweiten. Da muss ich mir wohl selber gratulieren. Bei mir hat es auch nicht gereicht. Heute ist mein letzter Tag bei Ihnen.« Er verteilte die anderen Zeugnisse und redete weiter. »Wissen Sie, ich war sehr gerne bei Ihnen. Die Idee, das Bildungsprivileg des Bürgertums aufzuheben, Arbeiter- und Bauernkinder zu fördern, ist schon eine dolle Sache, wenn es auch nicht ganz neu ist. Ich selber habe in der Studienzeit mein Kratzen gehabt. Mein Vater war weiß Gott kein Krösus. Ich musste als Werkstudent hart arbeiten. Da haben Sie es heute doch besser; Ihr Stipendium ist Ihnen sicher. Aber vielleicht kommt Sie am Ende Ihr Studium teurer zu stehen als mich meines damals.«

      Nachdem die letzten Zeugnisse verteilt waren, ging er zum Katheder zurück und redete von dort weiter. »Wissen ist Macht, heißt es ja heute, aber ist Wissen schon alles? Was stellen die Wissenden mit der Macht an? Und wer schützt uns vor den Mächtigen?«

      Als Seiter sah, dass alle in der Klasse mit ihren Zeugnissen beschäftigt waren und nicht zuhörten, schwieg er. Angela, die Intellektuelle in der Klasse, die eine große Hornbrille trug und neuerdings neben Ruth auf Inges Platz saß, unterbrach nach einer Weile die Stille.

      »Was werden Sie jetzt machen?«

      »Wenn es klappt, unterrichte ich weiter an einem traditionellen Gymnasium in Westberlin. Wie heißt es doch gleich: Das Bildungsprivileg des Bürgertums stabilisieren helfen. Jedenfalls werde ich wieder richtig Geld verdienen. Als Westberliner muss man hier im Osten ja eine gehörige Portion Idealismus mitbringen. Ein Viertel Gehalt in Westmark und drei Viertel in Ostmark, und das bei einem Wechselkurs von eins zu sechs, da bleibt gerade so viel, um dem westlichen Lotterleben zu verfallen.«

      Philipp bekam seinen Interzonenpass. Er musste ihn bei den Sowjets in Karlshorst abholen. Im Büro dort sagte man ihm, dass ein Offizier ihn noch sprechen wolle, und brachte ihn in ein Nebenzimmer. Der Offizier kam, forderte Philipp zum Sitzen auf und stellte ihm in gutem Deutsch Fragen über Westdeutschland, besonders über seine Heimatstadt Duisburg. Philipp berichtete, was er wusste und was nicht sehr weit über sein Heimatkundewissen hinausging, das er im Unterricht in der Volksschule mitbekommen hatte.

      »Können Sie mir einen Stadtplan von Duisburg mitbringen?« fragte der Offizier.

      Philipp sah seinen Interzonenpass auf dem Schreibtisch liegen und hätte noch mehr dafür zugesagt. Aber der Offizier war zufrieden, gab ihm den Pass und wünschte eine gute Reise.

      Komisch, dachte Philipp auf dem Heimweg, die werden für ihren berühmten Geheimdienst doch wohl nicht auf mein Wissen über Duisburg und auf eine von mir gekaufte Karte angewiesen sein. Er machte sich aber keine weiteren Gedanken darüber, sondern freute sich auf die Ferien, auf die Reise in seine Heimat und auf die Menschen dort.

      Im Lokal »Zur Sonne«, gleich neben der Zeche gelegen, war an den Wochenenden Tanz. Wenn Paul nicht zur Schicht musste, konnte er mit seinen Kumpeln zum Tanzen gehen. Im Unterschied zu den meisten war er kein großer Fußballfreund, so dass ihm mit seinen bald zwanzig Jahren das Tanzen als eine der wenigen Vergnügungen blieb.

      Manchmal, wenn er von der Frühschicht in die Nachtschicht wechselte und das freie Wochenende bevorstand, holte er sich ein Buch aus der Leihbücherei. Er las gerne Geschichten von den Menschen in früheren Zeiten. Als ihm einmal der Kassierer vom Knappenverein verbilligte Karten für das Duisburger Stadttheater anbot, fragte Paul, was denn in so einem Theater gespielt würde.

      »Parsifal, eine Oper von Richard Wagner«, sagte der Kassierer und erklärte Paul, dass die Oper von Rittern handelte, die auf einem Berg einen kostbaren Stein bewachten, der ihnen von Engeln gebracht worden sei. Ein Zauberer wollte den Stein stehlen.

      »Hast du schon Karten verkauft?«, fragte Paul.

      »Nein, noch nicht.«

      »Dann komm wieder, wenn du die erste Karte verkauft hast.«

      Der Kassierer kam aber nicht wieder. Bald danach hörte Paul, dass die Stadtverordneten von Hamborn für ein eigenes Theater in ihrer Stadt gestimmt hatten.

      Der Kaiser war nach Holland geflohen; sie lebten jetzt in einer Republik. Aber vier Jahre nach dem Ende des Krieges war für die Bergarbeiter immer noch keine Verbesserung des Lebens in Sicht. Es gab zwar für die unter Tage Beschäftigten zusätzliche Brot- und Margarinerationen, dafür mussten sie aber sechs Stunden in der Woche länger Kohle hauen, damit die Reparationslieferungen an Frankreich erfüllt werden konnten. Den Mehrverdienst, so fand Paul, konnte man sich in den Kamin schreiben, so schnell stiegen die Preise. Außerdem musste er das meiste von seinem Lohn sowieso zu Hause abliefern.

      Ferdinand arbeitete nicht mehr auf der Zeche. Guste war einen Monat vor dem Ende des Krieges an Magenkrebs gestorben. Gleich nach ihrem Begräbnis hatte Ferdinand auf der Zeche gekündigt, und seitdem lebten sie von dem, was