»Ich wohne in einer Scheune, Herr Vorsteher«, wagte Ferdinand zu entgegnen und drehte seine Schirmmütze in den Händen.
»Aber doch von der Zeche!? Na siehst du!«
Ferdinand wurde wieder ein Kumpel. Er träumte von der frischen Luft, wenn er in der feuchten Schwüle unter der Erde die Kohlen in die Wagen schaufelte, von den weiten, von der Sonne beschienenen ostpreußischen Feldern, und er wartete auf das schnelle Ende des Krieges. Wenn er nach der Schicht die Siegesmeldungen in der Zeitung las, war er voller Zuversicht. Schon bald aber wurden die Meldungen von der Front immer einsilbiger. Brachte die Zeitung in den ersten Kriegswochen noch täglich lange und ausführliche Meldungen vom siegreichen Vormarsch, so nahmen die Listen der Gefallenen unter der Überschrift »Deutsche Helden« bald einen größeren Platz ein und verdrängten endlich die Siegesmeldungen ganz. Ein wenig später mussten die in den Siedlungen wohnenden Familien der Helden auch wieder Miete zahlen.
Ein Kumpel, etwas älter noch als Ferdinand und als Pferdeführer unter Tage beschäftigt, zeigte ihm in einer Dubbelpause einen Brief seines Sohnes von der Front. Im Schein seiner Grubenlampe las Ferdinand, dass die deutschen Soldaten an der Marne nicht weiter vormarschierten, sondern sich in Gräben und Unterständen eingerichtet hatten. Die Franzosen lagen nur etwas mehr als hundert Meter entfernt von ihnen und hatten sich ebenfalls eingegraben.
Wenn es Tag wird – schrieb der Sohn –, beginnt das deutsche Artilleriefeuer auf die französischen Gräben und dauert eine halbe Stunde. Dann bergen die Franzosen ihre Toten und Verwundeten. Nach etwa einer Stunde feuert die französische Artillerie auf unsere Stellungen. Da heißt es dann, sich tief eingraben und den Kopf nicht heben. Genau wie bei den Deutschen dauert es gewöhnlich eine halbe Stunde. Anschließend können wir unsere Toten und Verwundeten bergen, bis die Artillerie wieder anfängt. Nur an den Sonntagen, da ist es hier ruhiger.
Wenn sie sich eingerichtet haben, dachte Ferdinand, dann wird es keinen schnellen Sieg geben, und ich werde noch lange in der Grube arbeiten müssen. Ich muss versuchen auch Pferdeführer zu werden. Und wenn er schon nicht an der frischen Luft sein konnte, wollte er wenigstens unter Tage mit einem Pferd Kohle fahren, sei es auch nur vom Querschlag zum Schacht. Als der Steiger bei seinem nächsten Kontrollgang vorbeikam, fragte Ferdinand ihn nach einem Pferdeführerposten.
»Du bist doch noch ein kräftiger Mann, Siebert«, sagte der Steiger. »Kommst du denn zurecht, wenn du nicht mehr im Gedinge bist und nur den Schlepperlohn kriegst? Du hast doch Kinder; sprich lieber erst mal mit deiner Frau.«
Guste war einverstanden, aber nur, weil ihr Mann versprach, einen Teil der Wiese umzugraben für einen Garten. Für das Schaf allein brauchten sie nicht mehr die ganze Wiese.
»Gut«, sagte der Steiger, als Ferdinand ihn am nächsten Tag ansprach, »ich trage dich in eine Liste ein, aber es kann dauern.«
Und es dauerte. Wochen später sprach Ferdinand erneut mit Guste darüber. Sie hatte vor Jahren einige Zeit im Hause des Obersteigers geputzt, und sie überlegten nun gemeinsam, wie sie diese Verbindung nutzen könnten. Wieder putzen gehen? Dazu war Guste zu krank.
»Die Obersteigersche hat außerdem ein Mädchen aus der Neuen Kolonie bei sich in Stellung«, sagte Guste. »Aber lass mich mal, ich mach das schon.«
Die Steigerhäuser lagen westlich der Kokerei. Dort, wo beinahe nie die Abgasschwaden hinkamen, gab es auch einen Park. Wenn Guste zum Arzt musste, kam sie daran vorbei und sah manchmal die Frau des Obersteigers mit ihrem Pudel darin spazieren gehen. Guste richtete es so ein, dass man sich traf.
»Guten Tag, Frau Obersteiger!«
»Tag, Guste!«
Die Obersteigersche war größer als Guste. Sie hielt sich sehr gerade, schaute auf Guste herab und sprach in einem leicht herablassenden Tonfall.
»Wie geht’s? Was machen die Kinderchen?«
So konnte Guste erst über ihre Kinder, dann von ihrer Krankheit und schließlich von ihrem Mann berichten. Frau Obersteiger versprach zu tun, was sie könne, klagte dann noch darüber, wie wenig pflichtbewusst die jungen Mädchen heute seien, lobte Gustes Arbeit und betonte, wie zufrieden sie doch mit ihr gewesen war. Guste streichelte so nebenbei den Pudel, stimmte zu, als Frau Obersteiger meinte, alle müssten fleißig sein und für den Sieg beten, und verabschiedete sich mit vielen Dankesworten und den besten Wünschen für Frau Obersteiger und deren ganze Familie.
Als einige Tage später der Steiger bei seinem Kontrollgang wieder bei Ferdinand vorbeischaute, sagte er: »Melde dich morgen zur Spätschicht im Pferdestall auf Sohle vier, Siebert; dort ist ein Pferdeführerposten frei geworden.«
»Ja, Steiger«, sagte Ferdinand. »Ich danke Ihnen auch schön.«
»Danke nicht mir, bedanke dich bei der Heiligen Barbara, die muss ein Auge auf dich haben.«
Ferdinand war zufrieden mit dem neuen Posten, aber er brachte weniger Lohn heim. Guste klagte bald, dass sie nicht auskomme mit dem geringen Geld. Die Kinder mussten barfuß zur Schule gehen, an Sparen war schon lange nicht mehr zu denken. Ferdinand versprach ihr, im Windschatten der Scheune, geschützt vor den Abgasen der Kokerei und der Teerdestillation, noch mehr von der Wiese umzugraben, so dass sie mit Kartoffeln und Gemüse bald Selbstversorger sein würden; und weil es inzwischen Brot und Lebensmittel nur noch auf Karten gab, wollte Guste ihrem Mann gerne glauben. Paul half dem Vater bei der Gartenarbeit und war mit ihm stolz, als sie das erste Gemüse ernten konnten. Die Ernten aber waren gering und glichen lange nicht die Lohnminderung aus, doch Ferdinand fuhr seiner Frau über den Mund, wenn sie eine solche Rechnung aufmachte, und Paul fand, dass es ihnen gut ging.
In der Schule wurde für den Beitritt zur Jugendwehr geworben. Paul war begeistert von dem Gedanken, an einer Ausbildung teilnehmen zu können, wie sie auch die Soldaten vor dem Fronteinsatz erhielten. Jeder freiwillige Junge bekam eine Uniform aus gutem Militärstoff und eine Mütze, verziert mit einer Kokarde in den Nationalfarben schwarz-weiß-rot. Guste, die ohnehin nicht wusste, wie sie für ihren schnellwachsenden Sohn Kleidung beschaffen sollte, stimmte seiner Teilnahme zu. Als Ferdinand den Jungen in der Uniform sah, war er überrascht, wie erwachsen er aussah und dachte, dass es an der Zeit sei, sich Gedanken über die Zukunft seines Sohnes zu machen. Steckte er ihn in den Bergbau, dann konnte man sie nicht aus der Scheune rauswerfen und ihm nicht das Land nehmen, wenn er in der Grube aufhörte. Bald darauf meldete er Paul als Pferdejungen bei der Zeche an. So kam Paul Siebert zum Bergbau und arbeitete sein Leben lang unter der Erde, bis man ihn nach einem Unfall tot nach oben trug.
7
Sophie ging nach dem Unterricht mit zur Singakademie, wo sie zu dritt die Schularbeiten machten. Christian fühlte sich durch sie gestört, fragte, ob sie vorhabe, ab jetzt immer mitzukommen, und verabschiedete sich bald. Sophie und Philipp blieben noch einige Zeit und gingen dann auch. Als sie über die Spree-Brücke Richtung Alex gingen, schneite es und begann zu dunkeln.
»Glaubst du, dass es ein Selbstmörder war?«, fragte Sophie.
»Wer?«
»Na, der Tote heute Morgen.«
»Weiß ich nicht«, sagte Philipp. »Hast du gesehen, dass er eine gefärbte Wehrmachtsjacke trug?«
»Warum tut ein junger Mann so etwas? Ich verstehe das nicht!«
Sie hängte sich bei ihm ein. Schweigend gingen sie zur Straßenbahnstation. Auch während der Fahrt schwiegen sie. Als Philipp sich am Prenzlauer Berg verabschieden und aussteigen wollte, zog Sophie ihn wieder auf den Platz zurück.
»Komm bitte mit! Ich möchte jetzt nicht allein sein.«
Auf dem Weg zu ihrer Wohnung kamen sie an einem Bäckerladen vorbei, in dem eine Frau noch beim Putzen war. Philipp klopfte an die Scheibe, die Frau schloss auf und ließ ihn eintreten. Er nahm seine Brotkarte aus der Schultasche und kaufte vier Roggenschrippen.
In Sophies Zimmer war es warm. Sie aßen die Schrippen und tranken Leitungswasser.