Ungeachtet meiner Ablehnung des Rechts-Links-Schemas, habe ich in manchen Belangen Überzeugungen, die man als links bezeichnen könnte. Ich bin links, weil Gesellschaft und Staat geburtslotteriebedingte Ungerechtigkeiten auszugleichen haben. Ich bin progressiv, weil ich weiß, dass das Gute und Gerechte nur überdauern kann, wenn es sich wandelt. Ich bin konservativ, weil ich ungern auf Trends aufspringe, gerne etwas zu verlieren habe, langfristig denke und es nicht mag, Menschen, Dinge, Ereignisse zu konsumieren und zu verbrauchen wie Süchtige Drogen. Mit politisch rechts Stehenden habe ich nie etwas anfangen können, allenfalls könnte man mir einen Hang zu Kraft, Härte, Disziplin attestieren – indes, Härte mir selbst, nicht anderen gegenüber. Ich bin aber vor allem liberal, weil ohne das Korrektiv der Freiheitsliebe weder Konservatismus noch Progressismus noch Sozialismus noch Demokratie menschenfreundliche Verhältnisse schaffen können. All das passt in keine „Identität“, die sich auf einen Begriff bringen ließe. Also muss man Sätze bilden.
Fasziniert haben mich stets ambivalente Menschen, nicht solche, die immer schon wissen, wo es langgeht, und sich selbst auf der Seite der Guten verorten. In meinem kurzen Leben habe ich tolle Feministinnen, venerable Konservative, freisinnige Linke, soziale Liberale, schwule Katholiken, sinnenfrohe Protestanten, sensible Metaller, feingeistige Bodybuilder und progressive Patriarchen kennengelernt. Die meisten in den Medien und in aktivistischen Kampfslogans kolportierten Identitätsklischees finde ich in meinem Umfeld nicht wieder. Wohl aufgrund dieser Erfahrungen tauge ich nicht zum Kulturkämpfer. Die Lebensrealität ist unseren engen Begriffen und Theorien oft voraus. Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen hat es auf den Punkt, genauer gesagt auf viele Punkte gebracht: „Eine Person kann gänzlich widerspruchsfrei amerikanische Bürgerin, von karibischer Herkunft, mit afrikanischen Vorfahren, Christin, Liberale, Frau, Vegetarierin, Langstreckenläuferin, Historikerin, Lehrerin, Romanautorin, Feministin, Heterosexuelle, Verfechterin der Rechte von Schwulen und Lesben, Theaterliebhaberin, Umweltschützerin, Tennisfan, Jazzmusikerin und der tiefen Überzeugung sein, dass es im All intelligente Wesen gibt, mit denen man sich ganz dringend verständigen muss (vorzugsweise auf Englisch).“19
Damit wird keiner müden „Mitte“, wie sie der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller beschreibt, das Wort geredet: „Die Vorstellung jedoch, die Mitte sei unter allen Umständen golden, ist insofern irreführend, als man sich damit offensichtlich von der Positionierung anderer abhängig macht. Ein gesundes Maß Skepsis gegenüber den eigenen Überzeugungen und praktischen Ideen ist sicher lobenswert. Sie ersetzt aber kein politisches Programm, das überhaupt erst einmal Orientierung schafft.“20 Zu diesem Programm gelangt man jedoch nur, indem man sich mit verschiedenen Angeboten vertraut macht, sie vergleicht, sie prüft, sich erst dann entscheidet. Deshalb ist es an der Zeit, die Mitte nicht als Wellness-Zone, sondern als ein Spannungsfeld zu begreifen, das durch die Überschneidungen verschiedener Haltungen und Erkenntnisse gebildet wird. Die so verstandene Mitte ist relational, nicht relativistisch; sie ist Metal-Moshpit, nicht Opernloge. Hier bekommt man die eigenen Grenzen aufgezeigt und muss sich mit Gegnern auseinandersetzen, anstatt sich aus sicherer Distanz im Besitz des Guten, Edlen und Wahrhaftigen zu wähnen. Mäßigung ist dahingehend das immer nur vorläufige Ergebnis intensiver Auseinandersetzungen und schmerzhafter Konfrontationen – nicht der Versuch, solche Auseinandersetzungen und Konfrontationen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Mitte ist somit ein Ort, an dem es ziemlich ungemütlich werden kann, wie der Philosoph Gerald Raunig nahelegt: „Die Mitte ist reißend, weil in ihr die Dinge Geschwindigkeit aufnehmen, ein Strom, der in alle Richtungen überfließt, das Gegenteil von reguliertem Mainstream, Mittelmaß und Vermittlung.“21
Manche Kommentatoren kokettieren hingegen mit der Rolle puristischer Revolutionäre und insinuieren, Differenzierung und Abwägung seien so etwas wie konterrevolutionäre Akte. Wer differenziert, kollaboriert! So unkte der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen 2019 auf Twitter: „Um den Riss in unserer Gesellschaft zu kitten, haben wir eine App entwickelt, die automatisch unter politische Tweets einen Aufruf zur Mäßigung und Differenzierung kommentiert. Jetzt brauchen wir eure Unterstützung, Spendenziel sind 870.000 Euro.“22 Aus Franzens Zeilen spricht ein alter bourgeoiser Habitus, der sich seit den bürgerlichen Bürgerkritikern à la Gustave Flaubert im Berufsdenkertum etabliert hat. Bürgerkinder greifen vom Schreibtisch aus bürgerliche Ikonen an, um selbst zur bürgerlichen Ikone zu werden; sie kritisieren das Bürgerliche aus zutiefst bürgerlicher Position: „Der Abscheu vor dem Bürger ist bürgerlich“, notierte Jules Renard (1864–1910) in sein Tagebuch.
Franzens Tweet war sarkastisch gemeint. Doch tatsächlich muss es genau darum gehen: um Mäßigung und um Differenzierung. Forderte man beispielsweise einen Nazi auf, sich zu mäßigen und zu differenzieren, so forderte man ihn implizit dazu auf, kein Nazi zu sein. Nazis können schließlich weder gemäßigt noch differenziert sein. Nazis sind radikale Ideologen, nicht nur Alltagsideologen, die wir alle unweigerlich sind, da wir die Realität gar nicht anders wahrnehmen können als durch die Filter unserer Vor-Prägungen, Vor-Erfahrungen, Vor-Urteile. Nazis sind Ideologen, die selbst zur Ideologie geworden sind.
Im besten Fall reflektieren wir unsere Vor-Prägungen, Vor-Erfahrungen und Vor-Urteile. Wir erkennen ihre Zufälligkeiten und Ungereimtheiten. Nur durch Checks & Balances vermittels anderer Weltbilder können diese kompensiert werden. Das Denken und Handeln von Nazis indes gründet auf einem hermetischen Weltbild. Im Jahr 2019 schrieb ich in der Neuen Zürcher Zeitung über den rechtsextremistischen Terroranschlag auf die Synagoge von Halle (Saale), Rechtsextremisten verfügten „über ein kohärentes Weltbild, mit dem sie ihr Tun legitimieren. So trüb die Quellen auch sind, aus denen sich dieses Weltbild speist, das Resultat ist klar. Wer Linksextremisten attestiert, sie handelten im Dienste kruder Ideologien und Weltbilder, muss Rechtsextremisten mit dem gleichen Maß messen. […] Das Weltbild der Rechtsterroristen … will selbst zur Welt werden. Es will die Differenz zwischen Bild und Welt, oder, wenn man so will, zwischen Kunst und Leben gewaltsam auslöschen, wie es auch die Differenz zwischen Volk, Staat und Gesellschaft, zwischen Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung, zwischen Individuum und Masse auslöschen will.“23 Man könnte auch sagen: Die Soll-Identität der Welt wird mit der eigenen Gruppenidentität identifiziert – aus der unausweichlichen Enttäuschungserfahrung resultiert Gewalt. Natürlich ist dieses Prinzip nicht auf rechtsextreme Ideologien beschränkt. Es ist Kennzeichen aller Extremismen.
Rechtsextremismus im Speziellen und Extremismus/Autoritarismus/Totalitarismus im Allgemeinen bedeuten Entdifferenzierung im großen Stil, legitimiert durch hermetische Weltbilder und eiserne Identitäten. Die Konsequenz aller politischen Ideologien, die aufs entdifferenzierte Ganze zielen, ist Gewalt, da sie sich in der natürlichen Vielfalt menschlicher Existenz weder argumentativ noch in der emotionalen Tiefe durchsetzen können. Sie beginnt mit Verbalgewalt, mit Verzerrungen und Verunglimpfungen, mit strategischen Missverständnissen, mit der Einpferchung Einzelner in Gruppenidentitäten („die Schwarzen“, „die Männer“, „die Frauen“, „die Amerikaner“, „die Schwulen“, „die Chinesen“, usf.), verbunden mit der Abwertung ebendieser Gruppenidentitäten. Sie mündet in physische Gewalt, sobald die Verbalgewalt im Machtkampf an ihre Grenzen stößt.
Die Aufforderung sich zu mäßigen an einen abgedrifteten Neonazi zu richten, ist natürlich vergeblich. Das ändert nichts daran, dass Mäßigung und Differenzierung die Bedingungen der Möglichkeit im Kampf gegen alles Extremistische, Autoritäre, Totalitäre, Fundamentalistische, Grausame bleiben. Gibt man diesen Anspruch auf, dann ist klar, wer die besten Chancen hat, die Culture Wars des 21. Jahrhunderts zu gewinnen – Vereinfacher, Populisten, Aufwiegler, Schwarzweißmaler, Selbstgerechte. Anstatt also Mäßigung und Differenzierung für obsolet zu erklären oder in Tweets zu bespötteln, gälte es im Gegenteil, Mäßigung und Differenzierung zu intensivieren, ja, paradoxerweise, zu radikalisieren. Ausgerechnet der altgediente Populist Arnold Schwarzenegger, der im hohen