In den sozialen Netzwerken fiel mir auf, dass Diskussionen vulgarisiert wurden, indem Teilnehmer auf einen bestimmten Aspekt ihrer Identität reduziert wurden oder mehr noch die Identitäten der Teilnehmer auf ein einziges Merkmal. Meldete sich beispielsweise in einem Twitter-Thread eine Feministin zu Wort, so konnte man damit rechnen, dass ein rechter Troll sie angriff – das, was sie da sagte, sei doch nur Ausdruck einer linksgrünversifft-genderistischen Agenda, die Ordnung unterminiere und zu Chaos führe! Dass Feminismus nicht gleich Feminismus ist, dass es eine große Vielfalt feministischer Haltungen und Theorien gibt, geschenkt. Durch die reflexhafte Identifikation einer Aussage mit einer – angeblich homogenen – Gruppenidentität, so schien es mir, wurden Einzelne ihrer eigenen Stimme beraubt, zu einem Echo sozialer Donnerschläge erklärt. In diesem Zusammenhang beobachtete ich, wie umgekehrt Social-Justice-Aktivisten auf Twitter die Argumente weißer Männer gar nicht erst analysierten, sondern sie rundweg als Verbrämung von Privilegien einstuften. Selbst linke Akademiker, die sich in Lippenbekenntnissen von rechtskonservativen Populisten wie dem dampftwitternden Norbert Bolz distanzieren, verfielen dabei in die Muster ihrer Gegner und behaupteten etwa, Liberalkonservative seien per se bestrebt, ihren unverdienten wirtschaftlichen Erfolg gegen Kritik zu immunisieren. Selbstverständlich fand ich auch Godwin’s Law bestätigt: je länger ein Twitter-Thread, desto wahrscheinlicher Hitler- und Nazi-Vergleiche.
Und wie ich mich da so beobachtete, und mich beim Beobachten meiner Beobachtungen beobachtete, konnte kein Zweifel bestehen: Ich war zum Identitätspolitiker geworden.
2.Anliegen des Essays: Wut zur Differenzierung
In der Medienöffentlichkeit, vor allem in Meinungsbeiträgen, Kommentarspalten und Posts in den sozialen Netzwerken, ist Identitätspolitik ein Reizthema, ein Feld voller strategischer Missverständnisse. Aktivistische und analytische Ansätze werden munter vermischt oder es werden aufmerksamkeitsökonomische Debatten inszeniert, in denen viel geklickt wird und es wenig Klick macht. Die einen werfen den anderen vor, die Menschheit vor lauter Identitäten nicht mehr zu sehen; die anderen den einen, sie sähen die Identitäten vor lauter Menschheit nicht. Für Humanisten gibt Identitätspolitik das Verbindende der Menschheit preis, für die Verfechter postmoderner Identitätspolitik besteht dieses Verbindende traditionell aus luftigen Ideen statt belastbarem Klebstoff. Rechte werfen Linken Identitätspolitik vor, Linke werfen Rechten Identitätspolitik vor. Beide haben recht, dass die jeweils andere Seite Identitätspolitik betreibt, und verstehen doch jeweils etwas anderes unter dem Reizwort. Für Rechte ist das eigene Volk die unterdrückte, gefährdete Minderheit, für Linke unterdrückt ebenjenes Volk Minderheiten diesseits und jenseits der Landesgrenzen. Aber auch innerhalb der beiden Lager besteht Dissens. Materialistische Linke sehen in Identitätspolitik eine Schrulle postmoderner Kulturlinker – anstatt mit angeblichen Marginalisierten Opferolympiaden zu veranstalten, solle man sich besser auf die breite ökonomische Basis besinnen! Postmoderne Kulturlinke hingegen werfen materialistischen Linken ein einseitiges Weltbild vor: Materielle Ungleichheit kann durch die kulturelle Abwertung von Identitäten verursacht werden! Neue Rechte verspotten derweil traditionalistische Rechtskonservative für ihre angeblich biederen Identitätsvorstellungen, traditionalistische Rechtskonservative wiederum können mit den aggressiven popkulturellen Inszenierungen der Neuen Rechten wenig anfangen. Konsumkritiker erkennen in Identitätspolitik ein Werkzeug des Neoliberalismus, der an einer Pluralisierung von Konsumentengruppen interessiert ist und frohlockt, wenn wieder mal eine neue Gender-Kategorie auftaucht. Konsumapologeten sehen in Identitätspolitik eine Möglichkeit, endlich maßgeschneiderte Angebote für die „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) machen zu können – als Antidot zum Universalismus des Henry Ford zugeschriebenen Werbeslogans für Autolackierungen: „You can have any color you like, as long as it’s black.“
In diesen Schaukämpfen geht es selten darum, Stärken und Schwächen von Identitätspolitik nüchtern und verantwortungsvoll zu analysieren, sondern darum, Identitätspolitik im Sinne der eigenen, nun ja: Identität zu instrumentalisieren. Es ist durchaus amüsant, dass fast jede Art der Ablehnung von Identitätspolitik wiederum die Identitätspolitik bestätigt: Die Gründe, diese oder jene Form von Identitätspolitik abzulehnen, speisen sich jeweils aus einer bestimmten Identitätsvorstellung, die – oft unausgesprochen – gegen eine andere Identitätsvorstellung verteidigt wird. In der Lebenswelt aber ist dieses Spiel nicht amüsant, sondern zynisch. Wird etwa eine weiße Deutsche Opfer eines Gewaltverbrechens, lechzen weiße deutsche Rassisten nach der Meldung: Der Täter ist ein Ausländer, besser noch ein Flüchtling! Wird ein eingewanderter Imam in Deutschland Opfer eines Gewaltverbrechens, wie es 2020 im württembergischen Ebersbach der Fall war, gehen Kritiker angeblicher Islamfeindlichkeit davon aus, dass „Islamophobie“ das Motiv war.4 So wunderte sich die Journalistin Ferda Ataman kurz nach Bekanntwerden des Verbrechens, „dass das kein @tagesschau-Thema sein soll …“5 Zu diesem Zeitpunkt liefen die Ermittlungen noch und es wäre fahrlässig gewesen, den Fall zu einem Politikum zu machen. Wenig später standen der Bruder und die Lebensgefährtin des Getöteten unter schwerem Tatverdacht.
Medien suggerieren mit klickbeuterischen Überschriften und überdrehten Leads, man müsse sich entscheiden: Ist Identitätspolitik gut oder schlecht? Sollte man sich ihren Befürwortern anschließen oder ihren Gegnern? Der Lead zu einer Polemik des Schriftstellers Maxim Biller stellt fest: „Linke Identitätspolitik begreift Menschen nur als Mitglieder von Opfergruppen.“6 Die Migrationsforscherin Sandra Kostner meint, „es“ gehe darum, „der Gesellschaft ein identitäres Weltbild aufzuzwingen“7. In der Neuen Zürcher Zeitung prangt über einem Artikel des Politikwissenschaftlers Mark Lilla die Überschrift „Identitätspolitik ist keine Politik“.8 In der Washington Post hingegen will der Philosoph Kwame Anthony Appiah herausgefunden haben, dass „alle Politik Identitätspolitik“ sei – zumindest behauptet das der Lead.9 Wenn aber alle Politik Identitätspolitik ist, dann ist der Begriff redundant. Auch der Lead zu einer teils fundierten Kritik des (klassisch) linken Regisseurs Bernd Stegemann an Identitätspolitik im Spiegel hält klipp und klar fest: „Identitätspolitik ist für die Linke ein Irrweg.“10
Typisch für derlei pauschale Feststellungen und empörungsfixierte Framings sind Kollektivsingulare, bei denen nie klar ist, wer eigentlich gemeint ist – „die“ Menschen, „die“ Identitätspolitik, „die“ Gesellschaft, „die“ Linken, „die“ Rechten, „die“ Frauen, „die“ Schwarzen, „die“ Weißen. Auch beziehen sich die Autoren meist nicht auf Primärquellen, sondern auf Aussagen über Aussagen über Aussagen. Anstelle präziser Analyse und Empirie tritt Raunen – ein Raunen, das Einwände erschweren soll, da es nie gänzlich abwegig und nie gänzlich zutreffend ist. Etwas wird schon dran sein! Ganz falsch werden sie schon nicht liegen! Wo Rauch ist, ist auch Feuer! Doch Feuer können auch von Brandstiftern stammen.
Die zitierten Überschriften und Leads sind wie Ohrfeigen, die man Menschen als freundliche Aufforderung verpasst, ein vernünftiges Gespräch zu führen. In der Netzöffentlichkeit kommentiert und diskutiert werden genau diese Zuspitzungen – und das wissen die verantwortlichen Verlage und Redaktionen sehr genau. Die oft viel differenzierteren Texte unter den Überschriften und Leads degenerieren zu Nebenschauplätzen.
Aktivisten wiederum pflegen aus nachvollziehbaren Gründen keine sachliche, nüchterne, abwägende, sondern eine instrumentelle Sicht der Dinge. So schrieb der Antirassismus-Aktivist Stephan Anpalagan 2020 auf Twitter, „es“ gehe „immer“ nur darum, „den islamistischen Terror allen Muslimen dieser Welt zuzuschreiben …“